Wie sähe ein Russland nach Putin aus? Diese Frage wird im politischen Diskurs – auch der Rechten – momentan häufig in Bezug auf Russland gestellt, sollte der derzeit laufende Ukrainekrieg Wladimir Putin seinen Posten kosten. Spekulationen dieser Art sind durchaus spannend zu lesen, nur kranken sie oft an einer falschen, allzu abendländischen Perspektive.
Ein Gastbeitrag von Josef Ram
Die Russische Föderation und auch Belarus wurden in den letzten Jahren des Öfteren von heftigen Protestwellen erschüttert. Besonders eindrücklich waren dabei die Proteste vor gut zwei Jahren, die gleichzeitig beide Länder betrafen. In Belarus gingen die Leute dabei als Reaktion auf das Wahlergebnis der damaligen Präsidentschaftswahl auf die Straßen, die in der öffentlichen Meinung nicht zum ersten Mal als manipuliert angesehen wurde.
Protestpotenzial in Russland
Vorangegangen waren den Protesten zudem Skandale rund um den belarussischen Politaktivisten Alexander Tichanowskij, der sich als Präsidentschaftskandidat zur Wahl stellte und kurze Zeit später verhaftet wurde – seine Frau Svetlana Tichanowskaja erlangte indes gerade im Westen als vermeintliche Anführerin der Proteste an Popularität.
Die große Protestwelle in Russland allerdings wurde hierzulande eher weniger wahrgenommen – vermutlich, da sie sich nicht so einfach einordnen ließ, vor allem in ideologischer Hinsicht. Der Gouverneur von Chabarowsk, Sergej Furgal, fiel kurzerhand einem Intrigenspiel der innerrussischen Machtriege zum Opfer. Gegen ihn wurde ein Strafverfahren wegen verschiedener Morde und Attentate eingeleitet, an denen er beteiligt gewesen sein sollte.
Das Ausmaß der Proteste indes hat wohl in dieser Form niemand erwartet, vor allem nicht die russische Regierung. Allsamstäglich gingen Menschen in Chabarowsk und der umgrenzenden Region auf die Straßen. Der Protest, zunächst monothematisch auf die Befreiung Furgals ausgerichtet, nahm schnell größere Ausmaße an und verband sich auch thematisch mit den Protesten in Belarus sowie mit dem Giftanschlag auf den Oppositionspolitiker Nawalny. Am Höhepunkt der Proteste, also im Spätsommer 2020, nahmen an den Märschen gut 100.000 Personen teil. Bei einer Einwohnerzahl von ungefähr 600.000 ist das schon bemerkenswert.
Besonderheiten der politischen Kultur
Erhellend ist dabei die Frage nach den Gründen für diese Protestwellen. Russische Soziologen vermuten, dass die Menschen in erster Linie Unzufriedenheit mit der Regierung auf die Straße trieb. Die Regierung habe ein „korruptes System“ entworfen, das auf der Loyalität der Beamten – in diesem Falle des eingesetzten Gouverneurs – basiert. Sergej Furgal habe in seiner Arbeit stets einen Konterpart zu diesem System dargestellt. Nach seiner Festnahme fungierte er gewissermaßen als Symbol für die Konfrontation von Volk und föderaler Macht in dieser Hinsicht. Vermutet wird zudem, dass der Regierung Furgals Macht und Einfluss im Volk schlichtweg zu groß wurde.
Dies ist denn auch das entscheidende Moment. Die Parteizugehörigkeit Furgals zur liberaldemokratischen Partei Russlands (LDPR) ist in diesem Zusammenhang vollkommen ohne Bedeutung, wie auch die Bedeutung der politischen Parteien an sich. Die LDPR-Fraktion in der Duma hatte von diesen Anschuldigungen keine Konsequenzen zu befürchten. Parteipolitik findet faktisch nicht statt. Deutlich ist in diesem Zusammenhang auch die offizielle Begründung für Furgals Ablösung als Gouverneur: er habe schlichtweg Putins Vertrauen eingebüßt.
Personen machen Politik, nicht Parteien
Die Parteien spielen offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Von entscheidender Bedeutung sind hingegen Persönlichkeiten. Das Beispiel Furgals hat dies auf regionaler Ebene schon im Ansatz gezeigt. Deutlicher wird dies noch auf nationaler Ebene. Dazu lohnt erneut ein Blick in die jüngere russische Geschichte. Im Jahr 2012 nämlich geriet das Putinsche System an einen kritischen Punkt. Eine Protestwelle ungekannten Ausmaßes zog über das Land. Einer der Anführer war der Oppositionspolitiker Boris Nemzow – mit Abstand die wichtigste Persönlichkeit der russischen Opposition. Am Höhepunkt der Proteste nahmen an den sogenannten „Märschen der Millionen“ hunderttausende Menschen teil.
Die Proteste waren thematisch gegen die Wahlergebnisse zur Duma Ende 2011 und später auch der Präsidentschaftswahlen 2012 gerichtet. In ihrem Kern waren es aber Proteste gegen Putin als Person, gegen sein System. Nemzow trat indes als Kontrahent, als einer der Opposition auf. 2015 sodann wurde er Opfer eines Attentats. Bezeichnend ist nicht nur das Attentat an sich – denn es beweist die Personenzentriertheit des Putin-Regimes selbst –, sondern vor allem seine Auswirkung auf das oppositionelle Lager.
So blieben die Parteien und ihre Programme ja auch nach Nemzows Tod bestehen, zu Protesten vergleichbaren Ausmaßes kam es allerdings vorerst nicht mehr. Erst als in Person Alexej Nawalnys eine neue Persönlichkeit aufstieg, kam es auch wieder zu Protesten. Und auch hier lässt sich konstatieren, dass die Proteste aufhörten, sobald die Persönlichkeit verschwand. Selbst unter dem Eindruck des Krieges – der auch in der russischen Gesellschaft polarisiert – kommt es zu keinen nennenswerten Erhebungen. Schlichtweg, weil es an einer Persönlichkeit mangelt.
Politischer Wettkampf und seine Grenzen
Auch im politischen Wettkampf zeigt sich die Personenbezogenheit, die dem russischen System – vielleicht auch der russischen Seele – inhärent ist. Bezüglich der Duma sei anschauungsweise der Politiker Wladimir Zhirinowskij herausgegriffen. Er ist Fraktionsvorsitzender der LDPR – der Partei, der auch Furgal angehörte. Damit gehört er zur Opposition, allerdings im erlaubten Rahmen. Der russische Journalist Egor Proswirin nannte ihn treffenderweise einen „ausgezeichneten Bühnenschauspieler“. Er gilt gewissermaßen als Gesicht der Partei, da er eine Persönlichkeit darstellt, exzentrisch und selbstdarstellend auftritt. Aber er hat keinerlei politischen Einfluss. Suchte er diesen zu erlangen, würde er wohl zügigst ausgeschaltet werden. Momentan liegt er Gerüchten zufolge im Sterben. Putin soll darüber zutiefst beunruhigt sein: Zhirinowskij ist quasi zeitlebens Teil des Systems Putin gewesen, und zwar als perfekter Pseudooppositionär. Fiele er weg, fehlte mit einem Schlag ein wichtiger Bestandteil des besagten Systems.
Diesem Prinzip entsprechend werden in Russland auch Präsidentschaftskandidaten ausgewählt und zugelassen. 2018 sorgte die Präsidentschaftskandidatur Ksenija Sobchaks für Furore. Die sich neuerdings als Politjournalistin gerierende russische Oligarchentochter trat überraschenderweise als Kandidatin zu den Präsidentschaftswahlen an, obwohl die Opposition beinahe einhellig beschlossen hatte, die Wahlen zu boykottieren, da Alexej Nawalny nicht zugelassen worden war. Was Nawalny und Sobchak unterschied, war ihr politischer Einfluss: während Nawalny Hunderttausende Russen mobilisieren konnte, war Sobchak ein politisches Leichtgewicht – vor allem aufgrund ihrer Herkunft und Vergangenheit voller Sexskandale. Nichtsdestotrotz war sie eine bekannte Persönlichkeit und somit der ideale Gegenkandidat für Wladimir Putin, der die Wahl denn auch wenig überraschend klar gewann. Zhirinowskij war übrigens auch einer der Kandidaten.
Russland nach Putin
Schließlich lohnt zum Vergleich zudem ein Blick auf die Ukraine und deren politisches System – das dem russischen sehr ähnelt. Auch hier waren es nach der Majdan-Revolution 2014 mitnichten Parteien, die die Führung übernahmen, sondern Persönlichkeiten, die plötzlich auftraten. Die große Mehrheit der Parteien, die in der Werchowna Rada derzeit vertreten sind, sind kaum drei Jahre alt. Sie stehen und fallen mit den Persönlichkeiten, die sie repräsentieren und die sie zu ihrem Zweck gegründet haben. Bestes Beispiel ist wahrscheinlich Wolodymyr Selenskyj selbst, dessen Partei bekanntlich nach der Fernsehserie „Diener des Volkes“ benannt ist, in der er die Hauptrolle gespielt hat. Eine deutlichere Personenbezogenheit kann es kaum geben.
Grundsätzlich muss man wohl David Engels recht geben, der in einem neulich erschienenen Text zum Thema treffend konstatierte, dass Russland schlichtweg kein Nationalstaat nach abendländischem Vorbild ist. Dementsprechend muss es auch mit anderen Maßstäben bewertet werden. Was nach Putin kommen wird, war schon vor Beginn des Krieges nicht leicht zu beantworten. Der Ausbruch des Krieges und auch die innerrussische Zuspitzung des Systems Putin hat dies sicherlich nicht einfacher gemacht. Sicher ist nur, dass, was es auch sei, es vermutlich nicht westlichen Maßstäben entsprechen wird. „Rossiju umom ne ponjat‘“ („Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand“ – Fedor Tjuttschew).
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