Vor 78 Jahren ereignete sich im mährischen Brünn eine menschliche Tragödie, die bis heute als Synonym für Unmenschlichkeit, Revanchismus und Rachejustiz gilt. Der Brünner Todesmarsch am 31. Mai 1945 markierte den Beginn der so genannten wilden Vertreibungen, die in den Wochen bis zum August 1945 eine Spirale der Gewalt gegen die Sudetendeutschen freisetzten. Wir erinnern mit einem Beitrag von Dr. Peter Wassertheurer an das tragische Ereignis.
Ein Beitrag von Dr. Peter Wassertheurer
Vor 78 Jahren ereignete sich im mährischen Brünn (tsch. Brno) eine menschliche Tragödie, die bis heute als Synonym für Unmenschlichkeit, Revanchismus und Rachejustiz gilt. Am 31. Mai 1945 begann mit dem Brünner Todesmarsch die gewaltsame Vertreibung der deutschen Bevölkerung, die der tschechischen Arbeiterschaft aus dem Brünner Waffenwerk Platz machen sollte. Die Durchführung oblag Bedřich Pokorný, einem tschechoslowakischen Geheimdienstoffizier, der während der Protektoratszeit für den deutschen Sicherheitsdienst der SS gearbeitet hatte.
Beginn der „wilden Vertreibungen“
Was sich Fronleichnam 1945 an Leid und Schrecken für die deutsche Zivilbevölkerung Brünns abspielte, stellte mit dem Prager Aufstand vom 8. Mai 1945 den Beginn der so genannten wilden Vertreibungen dar, die in den Wochen zwischen Mai 1945 und Anfang August 1945 eine Spirale der Gewalt gegen die Sudetendeutschen freisetzten. Diese pogromartigen Ausschreitungen verfolgten ein Ziel: Es ging darum, wie das Eduard Beneš als tschechoslowakischer Exilpräsident mit aller Härte forderte, möglichst viele Sudetendeutsche noch vor etwaigen inneralliierten Verhandlungen eigenständig zu vertreiben. Mindestens 800.000 Deutsche wurden in der Phase des Blutsommers 1945 über die Grenzen nach Deutschland oder Österreich gejagt. Dabei kam es zu schrecklichen Gewaltexzessen.
Der Brünner Todesmarsch
Die deutsche Bewohnerschaft Brünns wurde zunächst beim Augustinerkloster zusammengetrieben. Zuvor waren sie aufgefordert worden, das Allernotwendigste, beschränkt auf 15 Kilogramm, zusammenzupacken, alles andere – Gebäude, Wohnungen, Schmuck, Ersparnisse, Mobiliar, etc. – musste zurückgelassen werden, denn es fiel, wie das in den Beneš-Dekreten festgeschrieben wurde, der tschechoslowakischen Republik anheim, d.h. es wurde entschädigungslos zwangsenteignet.
Mindestens 30.000 Brünner, mehrheitlich Säuglinge und Kinder mit ihren Müttern sowie alte Leute, wurden am nächsten Tag aus ihrer Heimatstadt vertrieben und sollten von Revolutionsgardisten und Soldaten wie Vieh zur über 50 Kilometer entfernt liegenden österreichischen Grenze getrieben werden. Der 1. Juni 1945 war ein heißer Frühsommertag, die Strapazen nahmen zu, die Schwächsten traf es zuerst, sie brachen zusammen. Wer trotz der Beschimpfungen und Schläge nicht weiterkonnte, blieb entkräftet und der tschechischen Gewalt hilflos ausgeliefert am Straßenrand liegen. Gewehrkolben oder gezielte Schüsse erledigten den Rest.
An der österreichischen Grenze spielte sich der nächste Akt dieses menschlichen Dramas ab. Die Österreicher ließen niemanden durch. Bundespräsident Karl Renner, selbst südmährischer Abstammung und 1938 prominentester Befürworter des Anschlusses, hatte vor den Horden deutschsprachiger Tschechen gewarnt, die nur Krankheit und Elend nach Österreich bringen würden. Die Brünner wurden folglich zurück nach Pohrlitz (tsch. Pohořelice) geführt. Unter freiem Himmel, bei einsetzendem Regen, oder in primitiven Lagerhallen mussten die Menschen dann völlig erschöpft ausharren. Es fehlte frisches Wasser und an Verpflegung. Menschen verhungerten, verdursteten, Seuchen wie Typhus oder Ruhr brachen aus, eine ausreichende medizinische Hilfe gab es nicht.
Die Zahl der Opfer des Brünner Todesmarsches wird auf Seiten der sudetendeutschen Heimatvertriebenen mit 5.200 angegeben. Massengräber, wie etwa jenes in Pohrlitz (tsch. Pohořelice), legen bis heute Zeugenschaft für den Völkermord an den Sudetendeutschen (vgl. Felix Ermacora, Die sudetendeutschen Fragen, 1990) ab.
Auszug Roman: Heute aber braucht mich die Heimat
„Der Regen wurde wieder stärker, unablässig traktierten uns die Tropfen, die sich einen frischen, fröstelnden Wind angelacht hatten, der uns von der Seite angriff. Wie eine Walze rollte die Elendskolonne bei Dunkelheit zurück in die Heimat. Nach Stunden gewaltiger Anstrengung erreichten wir das südmährische Pohrlitz. Die Tschechen führten uns zu riesigen Getreidesilos. Der vom Dauerregen aufgeweichte Boden bot kaum noch Halt. Wir versanken förmlich im Morast, was den Kindern und Alten das Gehen zur Hölle machte. Sie rutschten aus, fielen hin, sie waren am Ende ihrer Belastbarkeit angelangt, mehr war ihnen nicht mehr zuzumuten. Diejenigen, die in diesen kahlen, kalten Speichern oder anderen Notunterkünften keinen Platz mehr fanden, blieben im Freien, Wind und Regen ausgesetzt. Ich gehörte zu ihnen. Die Feuchtigkeit kannte kein Erbarmen, sie war überall auf meinem Körper, selbst der Rucksack, der mir als Sitzfläche diente, war komplett nass. An Schlafen war unter diesen widrigen Umständen keinesfalls zu denken, obwohl die Schläfrigkeit meine Augenlider lähmte und mein Bewusstsein das Geschehen um mich herum nur noch vage und gefiltert wahrnahm. Selbst die erdrückenden Hilfeschreie der Frauen und Mädchen drangen nur sehr dünn an mein erschöpftes Ohr, ich realisierte kaum noch ihre Schändungen. Wie viele in dieser Nacht vergewaltigt wurden, vermag ich nicht genau zu sagen, es waren aber viele, viel zu viele.
Todmüde erwartete ich den nächsten Morgen, und es dauerte eine Ewigkeit, bis die ersten Sonnenstrahlen am Horizont erkennbar wurden. Ich schaute ihnen entgegen, und fröstelnd griffen alle Finger nach ihrer Wärme. Es war schön mitzuerleben, wie die Sonne aufging, Vögel pfiffen lebensfroh, für Sekunden verspürte ich ein warmes Gefühl, schon aber überfiel mich das Gebrüll der Partisanen. Sie trieben die Menschen aus dem Schlaf, denn uns stand ein weiterer Marsch nach Nikolsburg bevor. Mehr als 6000 blieben jedoch in Pohrlitz zurück. Sie konnten unmöglich weiter, waren krank, die Torturen des Vortags und dieser Nacht hatten die Kraft aus ihren Gliedern gesaugt. ‚Erschießt mich, aber ich gehe keinen Schritt mehr weiter‘, wehrte ein älterer Mann einen Tschechen ab, der versucht hatte, ihn mit Schlägen aufzutreiben. Es war erbärmlich, was sich vor mir abspielte. Ich dachte an Fronleichnam und fühlte mich an das Leiden Christi erinnert und an die Lehre, dass das Leiden die höchste christliche Tugend sei und einer höheren Bestimmung folge, um den Menschen von seiner Schuld zu befreien. Mich quälten Zweifel, weil ich in diesem Unglück unmöglich den Willen einer göttlichen Macht erkennen konnte. Die Autorität, die ich sah, waren mordende und prügelnde Tschechen, denen niemand Einhalt gebot. Sie konnten ihre schlechtesten Triebe befriedigen, sie durften ungestraft ihr mörderisches Handwerk ausüben, Unschuldige schlachten, quälen, töten, ohne dass ihnen jemand Einhalt gebot. Der Weg von Brünn nach Pohrlitz war mit Leichen, mit leblosen, geschundenen und entstellten Körpern übersät. Über Nacht hatte der feige Regen die Straße von den Spuren dieses Pogroms befreit und das Blut in das Erdreich gespült, aber die Hitze des Sommers dunstete die Leiber auf, und der Geruch des Todes schwebte wie eine Pest über die Wiesen und Äcker.
Ich ging dann an einem dieser Getreidespeicher vorbei. Davor hockte weinend eine junge Frau. Sie hielt etwas in ihren Armen, das wie ein Bündel aussah. Ich erkannte es nicht sogleich. Was war es? ‚Sie haben es erschlagen. Mein Kind ist tot‘, klagte sie über ihren seelischen Schmerz. Und ich begriff, dass die heftigen Schreie in der Nacht nicht aus einem Traum gekommen waren, sondern es waren verzweifelte und gebrochene Hilferufe gewesen, die Kindern, Mädchen und Frauen gehört hatten. Ich erfuhr Monate später vom Schicksal eines elfjährigen Mädchens, das an den Folgen des Missbrauchs elendig verblutet war. Zwei Partisanen hatten sie von ihrer Mutter weggerissen und in einer schäbigen Scheune vergewaltigt. Die ersten Minuten plagten mich Schmerzen in den Gelenken. Noch hockten dort Nässe und die Kühle der Nacht. Es dauerte, bis sie mir wieder gehorchten. Im aufgeweichten Boden waren die Spuren der vor mir Gehenden eingedrückt. Ich folgte und begegnete auf dem durchtränkten Boden kauernden Menschen. Ihre Gewänder hingen wie nasse Lumpen von der Haut. Wirr und furchteinflößend waren die Blicke jener, die noch am Leben waren, vereist und steif die der anderen, von denen ich annahm, dass sie bereits von dieser Hölle erlöst worden waren. Andere wiederum standen an der Schwelle zum Tode und waren im Begriff, endgültig zu resignieren und dieses elendige Jammertal hinter sich zu lassen. Sie siechten lethargisch vor sich hin, bereit und gewillt, das Leben loszulassen. Und dann gab es noch die vom eigenen Blut Gekennzeichneten. An den Händen war das Blut bereits eingetrocknet und an der Schnittstelle der Pulsadern hatte es bereits sein schönes, kräftiges Rot verloren. Dort war es nur noch eine hässliche, harte Kruste.
Mich schauderte es bei der Vorstellung, was sich hinter den Wänden der Baracken und hinter den betonierten Mauern der Speicher an Tragischem und Entsetzlichem zutrug. Es gab nirgendwo medizinische Hilfe. Wir Brünner waren gestern ohne Vorkehrungen auf diesen Todesmarsch geschickt worden. Wir sollten wie Müll über die österreichische Grenze geworfen werden, das Land wollte uns wie einen giftigen Erreger ausspeien, dass sich die Grenzbalken jedoch als unüberwindliches Bollwerk erwiesen, damit hatten die tschechischen Täter nicht gerechnet. Für viele Hunderte sollte Pohrlitz zur Grabstätte werden. Sie starben an Entkräftung, Infektionskrankheiten überschwemmten ihre ausgemergelten Leiber. Wer es schaffte, ernährte sich in den nächsten Tagen von den noch unreifen Feldfrüchten. Ihre Därme quollen auf und ließen den Lungen keinen Platz mehr. Das Atmen wurde immer schwerer und sank schließlich zu einem krächzenden Röcheln ab, ehe sie qualvoll erstickten.“
Wir möchten uns an dieser Stelle bei Dr. Peter Wassertheurer herzlichst für den Beitrag sowie die bereitgestellten Auszüge aus seinem Roman bedanken. Das Buch selbst ist bei Interesse direkt vom Autor zu beziehen: [email protected].
Ihnen gefällt unsere Arbeit? Sie können den “Heimatkurier” dauerhaft fördern oder einmalig unterstützen.