Flüchtlingsland Österreich 1945: Die volksdeutschen Heimatvertriebenen

Viel ist heutzutage von „Flüchtlingen“ die Rede – tatsächlich handelt es sich meist um Wirtschaftsmigranten aus kulturfremden Räumen, die hofiert und mit einem wahren Geldregen gesegnet werden. Die volksdeutschen Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg hatten ein anderes Schicksal. Der Historiker Dr. Peter Wassertheurer skizziert für den Heimatkurier die Dimension der Flüchtlingswellen 1944/45.

Ein Beitrag von Dr. Peter Wassertheurer

Der Zweite Weltkrieg führte 1944/45 zu einer radikalen Veränderung der ethnografischen Verhältnisse in Ostmittel- Südost- und Osteuropa, von denen auch Österreich betroffen war. Hunderttausende Volksdeutschen waren 1944 entweder nach Österreich evakuiert oder im Sommer 1945 gewaltsam dorthin vertrieben worden. Folgendes Zahlenmaterial soll die Dimension dieses Ereignisses vorstellen.

Spätherbst 1944

Bereits im Spätherbst 1944 waren 300.000 Donauschwaben aus dem jugoslawischen Raum und 60.000 Rumäniendeutsche geflüchtet oder auf österreichisches Gebiet evakuiert worden. Die österreichische Bevölkerung wurde zur Mithilfe aufgefordert. In einem Appell von 1944 hieß es: „Die Deutschen dieses Raumes zählen zu den besten Volksgruppen unserer Nation. Ihre Unterbringung ist für uns eine Ehrenpflicht. Der Reichsgau Oberdonau nimmt zehntausende dieser Menschen auf und gibt ihnen eine vorläufige Heimat. Die Deutschen aus dem Banat kommen nach Jahrhunderten wieder ins Reich. Wir werden sie nicht nur mit offenen Armen empfangen, sondern auch betreuen und entsprechend unterbringen. Sie sind unseren Volksgenossen gleichgestellt.“ Zu den Volksdeutschen aus Südosteuropa kam später ein Teil der 100.000 evakuierten Karpatendeutschen hinzu, vornehmlich aus dem Raum Pressburg/Bratislava.

Nach dem Zusammenbruch

Die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat musste dann mit dem militärischen Zusammenbruch des Dritten Reichs begraben werden. Prag drängte ebenso auf eine endgültige Lösung des deutschen Problems, Eduard Beneš hatte das in dieser Art schon 1944 in einem Memorandum an die Alliierten formuliert, wie auch Warschau, Budapest oder Belgrad. Es sollte aber bis zum Potsdamer Abkommen von Anfang August 1945 dauern, ehe die Siegermächte einen „humanen Transfer“ der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen festlegten. Solange wollte man aber nicht warten, weshalb in einer menschenverachtenden Propagandaschlacht zu Hass und zur Vergeltung aufgerufen wurde. Es kam in der Tschechoslowakei zu wilden Vertreibungen, von denen Österreich in den Sommermonaten Mai, Juni und Juli 1945 betroffen war. Einen ähnlich grausamen Weg beschritt Tito in Jugoslawien. Der konzentrierte  die deutsche Bevölkerung in Lagern. Zwischen November 1944 und März 1948 kamen dort von den 170.000 zivilinternierten Donauschwaben mindestens 51.000 durch Folter, Hunger oder Krankheit ums Leben, darunter 5.600 bis 6.000 Kinder unter 14 Jahren. Das, was sich damals in den jugoslawischen Lagern an Schrecken und Leid ereignete, erinnert an Stalins Holodomor von 1921 in der Ukraine.

Volksdeutschen in Österreich nach 1945

Nach dem Prager Aufstand Anfang Mai 1945 wurden rund 150.000 Sudetendeutsche aus den beiden deutschen Sprachinseln Brünn/Brno und Iglau/Jihlava sowie aus den südmährischen und südböhmischen Bezirken nach Österreich vertrieben. Den Sudetendeutschen sind noch die Deutsch-Untersteirer, die Gottscheer, die Umsiedler aus der Bukowina sowie die evakuierten Volksdeutschen aus Nordsiebenbürgen und Jugoslawien hinzuzurechnen. Fasst man alle diese Gruppen zusammen, so lässt sich nach Eduard Stanek zu Kriegsende ein Zustrom von 480.000 Volksdeutschen angeben.

Über 1 Million Flüchtlinge

Die Auffangzentren der Volksdeutschen in Österreich waren die Bundeshauptstadt Wien und die Bundesländer Nieder- und Oberösterreich sowie Salzburg und die Steiermark. Österreichs damaliger Innenminister Franz Olah erklärte am 25. Mai 1964 in einem Sonderbericht an den österreichischen Nationalrat Zur Flüchtlingssituation 1945-1961, dass sich über 1,650.000 Flüchtlinge, Heimatvertriebene, Umsiedler und Displaced Persons (DP) in Österreich aufgehalten hatten. Unter ihnen waren 1 Million Fremdsprachige und 650.000 Deutschsprachige, davon mindestens 300.000 Volksdeutsche. Zu den DPs zählten auch die geflüchteten Juden aus Osteuropa, die zwischenzeitlich in Österreich untergebracht wurden. Bundespräsident Karl Renner beschrieb die Lage Österreichs in der unmittelbaren Nachkriegszeit wie folgt:

„Von Norden her, aus der Tschechoslowakei, sollen laut Bericht der Sicherheitsdirektion nach Niederösterreich allein an die 300.000 deutsch sprechende Tschechoslowaken in primitiver Kleidung, ohne Geld, ohne Nahrungsmittel, kurz als Bettler, ins Land [gekommen sein, Anm. d. Verf.]. Aus Jugoslawien wurden die deutsch sprechenden ehemaligen Bewohner der Gottschee, durchaus jugoslawische Staatsbürger, über die Grenze geworfen. Dem Vernehmen nach sind auch nach Oberösterreich nicht weniger deutsch sprechende Tschechoslowaken eingebrochen. Nach Wien haben sich rund 18.000 eingeschlichen.“

Über 300.000 Volksdeutsche

Genauere Zahlen wurden ab 1946 vom österreichischen Innenministerium in Zusammenhang mit der staatlichen Betreuung der Volksdeutschen erhoben. Am 30. April 1952 verfasste die Abteilung U12 im österreichischen Innenministerium einen Bericht zur Flüchtlingssituation in Österreich und legte diesem eine Übersicht über die Zahl der Flüchtlinge im Zeitraum zwischen 1946 und 1952 bei:

1. August 1946: 306.652
1. Juli 1947: 288.308
1. Juli 1948: 327.506  
1. Juli 1949: 310.470
1. Juli 1950: 281.432 
1. Juli 1951: 251.382
1. April 1952: 219.546   
   

Für den Zeitpunkt 1. Oktober 1948 lag nach Angaben von Paul Frings folgende Aufteilung der Volksdeutschen nach Bundesländern vor:

Oberösterreich: 130.888
Wien: 77.428
Steiermark: 52.692
Niederösterreich: 24.530
Salzburg: 18.349
Kärnten: 13.171
Tirol: 5.158
Burgenland: 4.482
Vorarlberg: 2.100

Gesamt: 328.798

Im Vergleich zu den Angaben des österreichischen Innenministeriums gab das Vatikanische Auswanderungsbüro mit Stand vom 1. Oktober 1948 insgesamt 328.798 Volksdeutsche an, die sich nach dem Abschluss der Repatriierungen noch auf österreichischem Staatsgebiet befanden. Auch Franz Honner, Abgeordneter der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), sprach am 10. Dezember 1949 im Nationalrat von 366.638 Volksdeutschen. Am 1. Jänner 1950 veröffentlichte das österreichische Innenministerium neuerlich eine Erhebung zu den Volksdeutschen und operierte mit einer Größenordnung von 353.932 Personen.

Wien wollte keine Heimatvertriebenen

Die Rückführung der fremdnationalen NS-Zwangsarbeiter erfolgte sehr rasch über Initiative der Alliierten. Anderseits verlangte das Kontrollabkommen von der österreichischen Bundesregierung die Versorgung der Volksdeutschen, was dazu führte, dass sich der Nationalrat für deren rasche Repatriierung nach Deutschland einsetzte. Immerhin, so wurde argumentiert, haben sich die Sieger in Potsdam für eine Überführung der Volksdeutschen nach Deutschland ausgesprochen – von Österreich als Aufnahmeland sei in Potsdam keine Rede gewesen! Der staatsbürgerschaftliche Eingliederungsprozess der vertriebenen Volksdeutschen nahm daher einen Zeitraum von fast einem Jahrzehnt in Anspruch, ehe die gesetzlichen Voraussetzungen für eine rechtliche Gleichstellung garantiert werden konnten.

Eine Odyssee

Zunächst galten die volksdeutschen Heimatvertriebenen in Österreich als staatenlos, die nach den Bestimmungen des Fremdenpolizeirechts wie Ausländer behandelt wurden und eine befristete oder unbefristete Aufenthaltsbewilligung erhielten. Die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an die Volksdeutschen verlief nach der Salamitaktik: Wer gebraucht wurde, der konnte bleiben, alle anderen sollten ehebaldigst verschwinden! Hierbei wurde auch zwischen den volksdeutschen Gruppen differenziert, indem etwa Sudetendeutsche kulturell und ethnisch den autochthonen Österreichern gleichgestellt wurden, indem seitens des Innenministeriums die engen verwandtschaftlichen Beziehungen betont wurden. Sudetendeutsche Spezialisten erhielten daher sehr rasch die Staatsbürgerschaft. Im österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetz von 1945 wurden in der Fassung BGBl. 53/1946 die Voraussetzungen und Möglichkeiten für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft für Volksdeutsche folgendermaßen geregelt:

  • Verehelichung mit einem/-r österreichischen Staatsbürger/-in
  • ständiger ordentlicher Wohnsitz in Österreich im Zeitraum der letzten vier Jahre
  • ständiger und freiwilliger Aufenthalt auf österreichischem Staatsgebiet seit dem 1. Jänner 1915
  • freiwilliger und ununterbrochener Aufenthalt auf österreichischem Staatsgebiet in den letzten 10 Jahren
  • Ausübung eines öffentlichen Lehramts an einer österreichischen Hochschule
  • Keine Nachteile für die Republik Österreich bei der Einbürgerung eines/-r Volksdeutschen

Helmer veröffentlichte am 19. Februar 1946 Richtlinien für die Repatriierungen und erließ Ausnahmeregelungen für Volksdeutsche, die arbeitsmarktpolitisch motiviert waren. Die österreichische Wirtschaft benötigte vor allem „aus der Landwirtschaft stammende Arbeitskräfte (Bauern, Landarbeiter) und manuelle Arbeiter des Handwerks und der Industrie, besonders wenn sie sich durch fachliche Spezialkenntnisse auszeichnen.” Die großzügige Anwendung dieser Ausnahmebestimmungen lässt sich anhand statistischer Angaben der frühen 1950er Jahre deutlich nachzeichnen. Bis zum 1. Juli 1954 waren von den 134.188 registrierten Volksdeutschen aus der Tschechoslowakei bereits 98.136 (73,1 Prozent) eingebürgert.

Rigorose Abschiebung: 165.000 Volksdeutsche

Am 20. September 1945 hatten die vier Besatzungsmächte auf Drängen Wiens den Beschluss gefasst, dass Punkt XIII des Potsdamer Abkommens auch auf die nach Österreich vertriebenen Volksdeutschen anzuwenden sei. Bis Juni 1946 wurden aus allen vier Besatzungszonen insgesamt 165.000 Volksdeutsche nach Deutschland repatriiert, davon 160.000 in die amerikanische und ein viel kleinerer Teil von nur 5000 in die sowjetische Besatzungszone. 56 Transporten mit 71.000 Personen erfolgen bis August 1946 alleine aus dem Sammellager Melk. Die Repatriierungen wurden erst eingestellt, als die Aufnahmekapazitäten in Deutschland erschöpft waren.

Späte Gleichstellung

Eine endgültige Lösung der Staatsbürgerschaftsfrage bot das vom österreichischen Nationalrat am 2. Juli 1954 verabschiedete und nach Prüfung durch den Bundesrat und den Alliierten Rat am 5. August in Kraft getretene Optionsgesetz. Durch das Optionsgesetz konnten Personen deutscher Sprachzugehörigkeit, die in Folge des Zweiten Weltkriegs staatenlos geworden waren oder deren Staatszugehörigkeit wie bei vielen vertriebenen Volksdeutschen ungeklärt war, die österreichische Staatsbürgerschaft durch eine einfache Erklärung erwerben, in der sie versichern, dass sie der österreichischen Republik als getreue Staatsbürger angehören wollen.

Dr. Peter Wassertheurer ist Historiker, Autor und Journalist. In seinem Roman “Heute aber braucht mich die Heimat” schildert der Autor das grausame Schicksal der Volksdeutschen, das mit der vermeintlichen „Befreiung“ am 8. Mai 1945 seinen Lauf genommen hat. Das Buch selbst ist bei Interesse direkt vom Autor zu beziehen: [email protected].

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