Skandal um Friedrich Merz und die AfD: Im Gespräch mit Daniel Fiß

In der Bundesrepublik herrscht helle Aufregung – der Grund: CDU-Parteichef Friedrich Merz hat sich in einem Interview nicht klar genug gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgesprochen. Was hinter der Hysterie steckt und wie eine „Normalisierung“ der AfD vonstatten gehen könnte, darüber haben wir mit dem Polit-Analysten Daniel Fiß gesprochen.

„Merz durchlöchert Brandmauer zur AfD“ so titelte vor wenigen Stunden der österreichische „Standard“. Der Grund für die Aufregung? Folgende Aussage des CDU-Parteichefs Friedrich Merz im gestrigen im ZDF-Sommerinterview: „Wir sind doch selbstverständlich verpflichtet, demokratische Wahlen zu akzeptieren. Und wenn dort ein Landrat, ein Bürgermeister gewählt wird, der der AfD angehört, ist es selbstverständlich, dass man nach Wegen sucht, wie man dann in dieser Stadt weiter arbeiten kann.“

Was steckt dahinter? Darüber haben wir mit dem Polit-Analysten Daniel Fiß gesprochen.

Lieber Daniel! Zuallererst: Wie ordnest du die skandalisierte Aussage von Friedrich Merz ein? Gezielter, strategischer Tabubruch oder „ein Versehen“ – gerade in Hinblick auf den sich abzeichnenden Machtkampf innerhalb der CDU?

Daniel Fiß: Ich denke, dass es weder ein Versehen noch ein gezielter Tabubruch gewesen ist. Vielmehr dürfte diese Aussage der Naivität von Merz geschuldet sein, der manchmal so wirkt, als lebe er in einem politischen Paralleluniversum um die Jahre 2000-2005 herum. Er versteht nicht die aktuellen Mechanismen von Cancel-Culture, medialen Schweigespiralen und Skandalisierungsprozessen. Merz ist der klassische Typus des opportunistischen und un-ideologischen Liberalkonservativen, dem der angriffslustige Kulturkampf am Ende doch zu schmutzig ist.

Die Aussagen selbst sind in der Sache ja nicht sonderlich bemerkenswert. Merz plädiert für einen pragmatischen Umgang mit der AfD. Dort wo die Zustimmungswerte auf Kommunalebene über 50 Prozent liegen und die AfD administrative Ämter übernimmt, lässt sich die Ausgrenzungspolitik, wie sie auf der Landes- und Bundesebene praktiziert wird, nur schwerlich umgehen. Eine solche Aussage reicht aus, um selbst im medialen Sommerloch einen Entrüstungssturm zu erzeugen. Innerparteiliche Funktionäre wie der Berliner CDU-Bürgermeister Kai Wegner aber auch der sich im bayrischen Wahlkampf befindende CSU-Ministerpräsident Markus Söder sind zu seinen Aussagen bereits auf Distanz gegangen. Das zeigt die derzeitige strategische und kommunikative Fragilität der Union. Ich denke im Konrad-Adenauer-Haus ist man sich sehr wohl bewusst, dass „nicht-linke Mehrheiten“ ohne die AfD nicht mehr zu haben sind.

Nach kurzer Zeit musste Merz jedenfalls bereits wieder zurückrudern – zu stark war der mediale und innerparteiliche Gegenwind. Ein auffälliger Kontrast zu den hohen Umfragen und der steigenden Popularität der AfD. Wie schätzt du den aktuellen Höhenflug der AfD ein?

Was wir aktuell erleben ist die Zuspitzung des Kulturkampfes. Die Vorherrschaft einer „linken Mitte“ ist vorbei und wir sehen gerade die gesellschaftliche Neujustierung. Die gemeinhin als „bürgerlich“ bezeichnete Normalbevölkerung entwickelt langsam Immunkräfte gegen die linken Transformationsprojekte. Sie ist bereit, ihre Lebensentwürfe, ihren Wohlstand und auch ihre Identität als Deutsche sowie als Mann und Frau verteidigen. Das was wir jetzt erleben haben die beiden Politikwissenschaftler Pippa Norris und Ronald Inglehart bereits in ihrem Buch „Cultural Backlash“ skizziert. Die Dynamik des Progressivismus seit den 80er Jahren gerät ins Stocken und löst Widerstandsreaktionen aus. Die nach links verschobenen normativen Werteachsen bekommen ein konservativ-reaktionäres Gegengewicht. Bestimmte Kernmilieus wie jene der Arbeiter sind den Linken abhandengekommen und zeigen in ihren Einstellungsprofilen eine neue Offenheit gegenüber rechtskonservativen Parteien. Diese Neuordnung der politischen Mobilisierungskräfte kommt aktuell vor allem der AfD zunutze. Wir erleben auf der einen Seite eine Fragmentierung der Wählerpotentiale und auf Seiten der rechten Parteien in Europa ein Vorstoßen in neue soziale Gruppen.

Ist die vielbeschworene „Brandmauer“ gegen die AfD angesichts dessen langfristig zu halten? Umfragewerte und kommunalpolitische Realitäten sind nun mal da. Wird über kurz oder lang eine „Normalisierung“ der AfD stattfinden? Und wenn ja, wie könnte sie ablaufen?

Fangen wir damit an wie es NICHT ablaufen wird: Es wird keinen Parteitags- oder Vorstandsbeschluss seitens der Union für eine neue Offenheit gegenüber der AfD geben. Das Parteiestablishment der CDU hat jetzt alle Hände voll damit zu tun, ihre eigene Basis für die Fortsetzung der Abgrenzung zur AfD disziplinieren. Hinterbänkler wie der sächsische Bundestagsabgeordnete und ehemalige Ost-Beauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz versuchen es im Zweifel sogar mit einem AfD-Verbot. Am Ende laufen innerparteiliche Veränderungsprozesse nicht viel anders ab als im normalen politischen Betrieb.

Aus der Unionsbasis werden erste Lobbys entstehen, die für einen pragmatischen Umgang mit der AfD werben. Immer wieder wird es vor allem von Vertretern aus den Ost-Verbänden der CDU-Brandbriefe, Parteitagsanträge und öffentliche Statements geben. Die CDU-Führung wird versuchen diese Stimmen zu unterdrücken und sich der ehrlichen Debatte verweigern, sodass es unweigerlich auch zu offenen Bruchstellen und Lagerkämpfen in der Partei kommen wird. Möglicherweise erwächst aus diesem Kampf eine neue CDU-Führungsgeneration der „AfD-Offenen“, die zunächst in ersten Landesverbänden und später auch im Bund innerparteiliche Mehrheiten organisieren können. Das Ganze könnte zu einer großen Spaltbewegung der Christdemokratie in Deutschland führen, aber das ist nicht das Problem der AfD. Ihr strategischer Trumpf ist ihre eigene demoskopische Stärke, der sich immer weiter als Keil in diesen inneren Unionskonflikt hineinfrisst.

In einem Tweet zur Causa schreibst du: „Zuspitzung des Kulturkampfes auf der einen Seite und gesellschaftliche Normalisierung auf der anderen ist eine sehr günstige Entwicklung.“ – Was genau meinst du damit? Welche Chancen ergeben sich daraus konkret?

Die Stärke der AfD lebt aktuell von zwei Faktoren. Einmal dem Mobilisierungsmomentum über den Kulturkampf, der sich vor allem aus der fundamentalen Ablehnung der Grünen und ihrem angeschlossenen Milieu speist. Dies scheint laut Umfragen auch zahlreiche Nichtwähler zu politisieren. Das scheinen nicht nur temporäre Wechselwahlbewegungen zu sein, sondern möglicherweise sehen wir hier die Entstehung eines eigenständigen politischen Milieus, welches seinen eigenen normalen Lebensentwurf in die Frontstellung zur woken-urbanen Blase stellt.

Auf der anderen Seite normalisiert sich durch die steigenden Umfragewerte und auch Wahlergebnisse die Normalisierung der AfD. Mit den Erfolgen in Sonneberg oder Raguhn-Jeßnitz sind die anderen Parteien gezwungen, einen Umgang mit der AfD zu finden. Die Normalisierung hebt das erweiterte Wählerpotential und verfestigt die Bestandswählerschaft.

Dieses Jahr finden im Oktober die Landtagswahlen in Bayern und Hessen statt, nächstes Jahr im Herbst in Sachsen, Thüringen und Brandenburg – zusätzlich zur Europawahl im Juni 2024. Was muss die AfD bis dahin tun, um die aktuellen Umfragewerte beizubehalten? Welche Fehler gilt es zu vermeiden?

Alle Beobachter der AfD sind sich soweit einig, dass die derzeitige Stärke natürlich maßgeblich auch von externen Faktoren abhängig ist. Es gibt keine allgemeine Formel um Umfrageergebnisse zu halten. Ich würde in die Strategieplanung der Partei durchaus auch eine Abwärtsbewegung auf 16-17 Prozent einkalkulieren. Die Kernmilieus sind schließlich von der Mobilisierungskraft nahezu ausgeschöpft. Langfristig wird es für die AfD entscheidend sein, die erhöhten Zustimmungswerte auch durch entsprechenden Strukturausbau rückzubinden. In zahlreichen Bundesländern finden nächstes Jahr parallel zur Europawahl auch die Kommunalwahlen statt.

In meinem Heimat-Bundesland Mecklenburg-Vorpommern würde die gesamte Mitgliederschaft des Landesverbandes nicht einmal ausreichen, um alle möglichen Mandatsgewinne für die AfD in den Kommunalparlamenten auszufüllen. Hier muss die Partei unter anderem auf Mitgliedergewinnung sowie Talent- und Elitenförderung setzen. Die AfD muss sich jetzt auf das Heranwachsen eines eigenständigen politischen und gesellschaftlichen Milieus in ihrem Sinne vorbereiten. Das heißt auch ein grundsätzliches politisches Denken und eine normative Zielvision zu formulieren und zu popularisieren.

Abschließend: Wie gut stehen die Chancen für eine nachhaltige Politikwende mit einer AfD-Regierungsbeteiligung? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um sich von einem möglichen Koalitionspartner nicht zum Erfüllungsgehilfen degradieren zu lassen?

Das ist eine Frage, die die AfD für sich selbst beantworten muss. Als wohlwollender Beobachter und Analyst kann ich jedoch nur appellieren, dass die Partei sich im inneren Strategieprozess durchaus mal auf Gedankenspiele einlassen sollte, wie mögliche Regierungskonstellationen aussehen könnten. Wie organisiert man strukturell und personell ein Ministerium? Welche Ministerien sind politisch am wichtigsten? Welche Zugeständnisse und unverhandelbaren Positionen werden in Koalitionsverhandlungen relevant? Es sind Fragen, zu denen die Partei noch keinen großen Strategiekongress braucht – aber sie können durchaus dazu dienen, Zielvorstellungen und inhaltliche Positionen nachzuschärfen und zu konkretisieren.

Lieber Daniel, herzlichen Dank für das Gespräch!

Auf seinem Feldzug-Blog veröffentlicht der Politikanalyst und Medienagentur-Inhaber regelmäßig Analysen über das politische Geschehen in Deutschland und Europa. Ein Blick lohnt sich – auch auf Twitter!

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