Am 10. September 1919 wurde der Vertrag von Saint Germain als einer der fünf Pariser Vorortverträge offiziell unterzeichnet. Die darin beschlossene Neuordnung Europas hatte weniger mit dem vielbeschworenen nationalen Selbstbestimmungsrecht, als mit der bezweckten Schwächung des deutschen Blocks zu tun. Der Historiker und Publizist Dr. Peter Wassertheurer skizziert in seinem Beitrag die tiefgreifenden Folgen des Vertrags.
Ein Beitrag von Dr. Peter Wassertheurer
Am 10. September 1919 unterzeichnete Staatskanzler Karl Renner im Schloss Saint-Germain-en-Laye bei Paris den Friedensvertrag, der Wien von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs diktiert worden war. Unter dem Vertragswerk befinden sich auch die Unterschriften der insgesamt 27 assoziierten Mächte. Vor allem das Anschlussverbot und das Verbot des Staatsnamens Deutsch-Österreich machen bis heute deutlich, dass dieser Vertrag keinesfalls auf Grundlage des nationalen Selbstbestimmungsrechts fair verhandelt wurde. Er zeugt vielmehr von der Absicht, die Machtverhältnisse im zentraleuropäischen Raum nach Westen zu verschieben und den Einfluss der Deutschen in Ost- und Südosteuropa zu begrenzen. Bevor die wichtigsten Punkte des Friedensvertrags von Saint-Germain vorgestellt werden, macht ein kurzer historischer Rückblick deutlich, weshalb der österreichische Teil der Donaumonarchie territorial derart radikal auf sein historisches, deutsches Kerngebiet zusammengestrichen wurde.
Italien wechselt die Seite
Nach der Ermordung von Thronfolger Franz Ferdinand und seiner Gattin Sophie von Hohenberg in Sarajewo erklärte Österreich-Ungarn Serbien am 28. Juli 1914 den Krieg. Damit wurde auf europäischem Boden eine verhängnisvolle Kettenreaktion an Ultimaten und Kriegserklärungen ausgelöst, die zu einem Weltkrieg führten. Dem Block der Entente aus Paris, London und Moskau stand der Dreibund gegenüber. Diesen hatten Berlin, Wien und Rom in einem geheimen Defensivbündnis geschlossen. Am 23. Mai 1915 gab Italien seine neutrale Haltung im Krieg auf und wechselte in die Reihen der ehemaligen Kriegsgegner. Noch am gleichen Tag erklärte Kaiser Franz Joseph in einem schriftlichen Manifest: „Der König von Italien hat mir den Krieg erklärt. Ein Treubruch dessengleichen die Geschichte nicht kennt, ist von dem Königreich Italien an seine beiden Verbündeten begangen worden.“
Die letzte Klammer zerbricht
Als Lohn für diesen Verrat erhielt Rom von der Entente auf Kosten der Monarchie zahlreiche territoriale Zugeständnisse: Dazu zählten unter anderem die Brenner-Grenze mit Südtirol, das Kärntner Kanaltal und das Küstengebiet. Die österreichische Heeresführung sah sich zu einer Verlagerung ihrer militärischen Kräfte in den Süden gezwungen. Gleichzeitig etablierte sich im Exil der von Tomaš G. Masaryk gegründete Tschechoslowakische Nationalrat, der auf eine staatliche Unabhängigkeit der Tschechen und Slowaken hinarbeitete. Masaryk gelang es mit Unterstützung des späteren Außenministers Eduard Beneš die Entente-Mächte von der Idee einer souveränen tschechoslowakischen Staatsnation zu überzeugen. In Prag wurde man allerdings nicht müde, dem Herrscherhaus gegenüber seine Loyalität zu bekunden. Ähnlich doppelbödig agierten auch die Südslawen, die auf einen souveränen jugoslawischen Staat hinarbeiteten. Auch die Südslawen sollten nach dem Willen der Entente ihre Unabhängigkeit erhalten. Die Grenzen sollten aber erst nach dem Krieg neu gezogen werden. 1916 starb Kaiser Franz Joseph. Mit seinem Tod war endgültig die letzte Klammer, die dieses multiethnische Großreich noch zusammenhielt, zerbrochen.
Manifest an meine Völker
Am 16. Oktober 1918 erließ Kaiser Karl I. sein legendäres Manifest, in dem er seinen Völkern das Angebot machte, die Monarchie in einen ethnisch gegliederten föderativen Bundesstaat umzuwandeln, in dem allen die gleichen Rechte zuerkannt werden. Dieses Manifest kam jedoch zu spät. Die militärische Katastrophe läutete auch das Ende der Herrschaft der Habsburger ein. Am 3. November 1918 kapitulierte die k.u.k. Armee in Padua und bat um Waffenstillstand, der in der Villa Gusti unterzeichnet wurde, womit die österreichisch-italienische Front beendet wurde. Damit war auch jeder Funke Hoffnung auf einen Umbau der Monarchie, wie ihn Karl I. vorgeschlagen hatte, erloschen. Am 18. Oktober 1918 erklärte Masaryk in den USA die tschechoslowakische Unabhängigkeit, bereits zehn Tage später wurde die tschechoslowakische Republik in Prag ausgerufen. Die Gründung der Republik Deutsch-Österreich fiel auf den 12. November 1918. Diese sollte nach dem Willen der Reichsratsabgeordneten vom 21. Oktober 1918 auch die Gebietsgewalt über die 3,5 Millionen Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien ausüben.
Territoriale Verluste
In Saint Germain war von einem nationalen Selbstbestimmungsrecht für die Verliererstaaten freilich keine Rede. Die Neuordnung Europas sollte einerseits den germanischen Block schwächen, andererseits wurden die bereits ab 1915 gemachten Zusagen von der Entente umgesetzt. Für die österreichische Delegation unter Führung von Karl Renner war die Ausgangslage von Anfang an hoffnungslos, denn den Verliererstaaten wurde das Recht auf eine Teilnahme bei den Friedensverhandlungen untersagt. Renner blieb nichts anderes übrig, als Österreichs Forderungen in schriftlicher Form einzubringen. Am 2. September 1919 bekamen dann die Delegationsteilnehmer den Vertrag und seine 381 Artikel zu Gesicht. Österreich war als einstige Großmacht auf einen Kleinstaat geschrumpft. Die Tschechoslowakei erhielt Böhmen, Mähren, Österreich-Schlesien sowie einige Grenzgemeinden auf niederösterreichischem Gebiet. Die Südslawen bekamen die Krain (Slowenien), Dalmatien, das Mießtal, das Seetal – diese beiden Täler wurden von Kärnten abgetrennt – die südliche Untersteiermark und Kroatien. Der neu gegründete SHS-Staat beanspruchte auch Teile Kärntens. Polen wurde Galizien zugeteilt, an Rumänien fiel die Bukowina. An Italien gingen Südtirol, Welschtirol, Istrien und das Kanaltal. Abgesehen vom Burgenland, das zu Österreich kam, verblieben der neuen Republik nur die historischen Kernländer: Niederösterreich (mit Wien), Oberösterreich, Salzburg, Kärnten, Steiermark, Tirol und Vorarlberg. Die Bevölkerung betrug nur mehr 6,5 Millionen, die Größe nicht mehr als 84.000 Quadratkilometer. Mindestens sechs Millionen Deutsche, die in den Grenzen der Monarchie (Sudetendeutsche, Deutsch-Untersteirer, Gottscheer-Deutsche, Siebenbürger-Sachsen, Donauschwaben, Bukowina-Deutsche) gesiedelt hatten, gehörten einer fremden Staatsnation an und wurden zu ethnischen Minderheiten.
Kärntner Abwehrkampf
Ähnlich den Vorgängen in der Tschechoslowakei und im Süden des ehemaligen Herzogtums Steiermark, wo tschechoslowakisches Militär sowie SHS-Soldaten in die seit Jahrhunderten deutsch besiedelten Gebiete eindrangen, wurde auch Südkärnten besetzt, das der SHS-Staat ebenso beanspruchte. Während etwa die Sudetendeutschen im Glauben an das nationale Selbstbestimmungsrecht jede militärische Konfrontation vermieden, griffen die Kärntner zu den Waffen und führten bis Juli 1919 einen militärischen Abwehrkampf. Obwohl die Kärntner letztlich den militärischen Kampf gegen eine Übermacht verloren hatten, erreichten sie zumindest, dass sich die Siegermächte auf eine Volksabstimmung einigten. Das Kärntner Volk sollte selbst über seine nationale Zukunft entscheiden können. Die Volksabstimmung wurde auch in das Vertragswerk von Saint Germain aufgenommen. Am 10. Oktober 1920 entschied sich dann die Mehrheit Südkärntens für einen Verbleib bei Österreich. Es kam zu keiner nachträglichen Grenzverschiebung. Auch der Abstimmung in Ödenburg von 1921, die gleichfalls in Saint Germain festgelegt worden war, folgte keine Grenzkorrektur, weil sich die Mehrheit für Ungarn entschied.
Weitere Bestimmungen
Österreich bekam wie Deutschland (Vertrag von Versailles) und Ungarn (Vertrag von Trianon) die alleinige Kriegsschuld zugesprochen. Für die Schäden sollte Wien Reparationen bezahlen. Doch in Wahrheit war das Land wirtschaftlich zu schwach, um sich solche leisten zu können. Es kam nicht einmal zu Verhandlungen über eine konkrete Reparationshöhe. Österreichs militärische Stärke wurde in Saint Germain auf ein Berufsheer von 30.000 Mann beschränkt. Neben den massiven Gebietsverlusten wurde das Anschlussverbot an die deutsche Republik als Missachtung nationaler Selbstbehauptung und als nationale Demütigung empfunden. Die Republik Österreich war durch die in Saint Germain diktierte territoriale Einengung auf die historischen Kerngebiete reduziert worden, das Land wurde jedoch nach dem Wegfall aller nicht-deutschen Gebiete ethnisch homogener. Das von der Provisorischen Nationalversammlung am 11. November 1918 beschlossene „Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich“ bezeichnete folglich Deutsch-Österreich unter Art. 2 als Bestandteil der Deutschen Republik. In Saint Germain wurde dazu Nein gesagt.
Das weitere Schicksal
Der Anschluss wurde dann 1938 unter ganz anderen Umständen vollzogen. 1943 wurde in der Moskauer Deklaration die Wiederherstellung der österreichischen Souveränität in den Saint Germain-Grenzen als eines der vielen interalliierten Kriegsziele genannt. 1945 besetzte Tito Südkärnten und wollte das Ergebnis der Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 aus der Kärntner Geschichte tilgen. Großbritannien erreichte es, dass Tito sich mit seinen Partisanen wieder hinter die Karawanken als Grenze zurückzog. Österreich wurde von den vier alliierten Großmächten besetzt, die Grenzen standen jedoch nie zur Diskussion. 1955 erhielt Österreich als neutraler Staat seine Unabhängigkeit in den Grenzen von 1919 zurück. Auch in der Wendeperiode von 1989/90, als die 1918 gegründeten Nationalstaaten, vornehmlich die Tschechoslowakei und Jugoslawien, teils friedlich, teils in furchtbaren Bürgerkriegen, auseinanderbrachen, hielten Österreichs Grenzen, wie sie in Saint Germain festgelegt worden waren.
Abgesehen von den demografischen Entwicklungen in Österreichs Ballungszentren, wo seit 2015 eine massive Zunahme außereuropäischer Kulturkreise stattfindet und sich zu Ungunsten der autochthonen Bevölkerung verschiebt, bewies auch die ethnografische Struktur Österreichs seit Saint Germain eine erstaunlich hohe Stabilität.