In den Spätherbsttagen des Jahres 1914 versuchte die deutsche Armee in Flandern durch die erstarrte englisch-französische Front zu stoßen. Am 10. November rückten westlich des Städtchens Langemarck schließlich junge Regimenter unter Absingen des Liedes der Deutschen gegen eine mächtige englische Kernstellung vor. Der Angriff misslang, verhinderte aber eine geplante Großoffensiven der Engländer. Der Opfermut der 2.000 singenden Soldaten wurde zum Mythos – wir zeichnen ihn nach.
Ein Gastbeitrag eines deutschen Studenten
“Heinrich, schnall‘ das Sturmband enger! Ist angenehmer im Lauf.“, „Dank‘! Hast Du noch nen Ladestreifen?“ „Ja, hier.“ Eng ans Erdreich gepresst liegen die Männer in den Schützengräben. Stockfinster ist es hier, das Morgengrauen noch nicht angebrochen. Der Herzschlag rast. Nerven gespannt. Ruhelos harren die Abteilungen dem erwarteten Befehl. Für viele wird es der erste Angriff sein. Wogende Winde umwehen die Reihen. Es können nur noch Momente bis zum Angriff sein. Und wie diese Momente quälen. Da! Ein Pfeifen geht von Frontabschnitt zu Frontabschnitt. „Sprung auf! Marsch!“ erklingt die Stimme eines Leutnants im Graben. „Es geht los!“ Mann um Mann heben sich die feldgrauen Gestalten aus der Deckung in den flandrischen Nebel – Tausende sind es.
„Deutschland, Deutschland über alles!“
Im Laufschritt geht es den feindlichen Stellungen entgegen. Die englisch-französische Verteidigungslinie auf einer nahegelegenen Hügelkette ist das Ziel. Der Gegner antwortet augenblicklich mit Maschinengewehren auf den Vorstoß. Doch da: In das Pfeifen der Kugeln, in das Explodieren der Geschosse, in Schreien und Stöhnen der Soldaten mengt sich freudig-entschlossen ein Lied. „Deutschland, Deutschland über alles!“ dröhnt es über das Schlachtenfeld. Der Gesang verwebt sich mit dem Kriegsgedröhn. Wer hat ihn angestimmt? Ein Kommandant? Ein einfacher Wehrmann? Keiner weiß es. Doch was gewiss ist: Sterbende singen hier. Sie singen beim Lauf in die eigene Vernichtung. Die Aufwärtsstürmenden sind für die von oben feuernden MGs leichte Ziele und werden förmlich niedergemäht. Des Todes Sense greift reichlich in die junge deutsche Mahd – 2.059 Männer geben in dieser Stunde ihr Leben.
Vorgeschichte
Zu Anfang des Weltkrieges war es auf beiden Seiten angestrebt, ehestmöglich große Gebietsgewinne zu machen. In Paris sprach man davon, zu Ende des Jahres in Berlin zu stehen und umgekehrt. Deutschland erwies sich in dieser Bewegungsphase anfänglich als stärker. Gegen Ende des Sommers stand man 50 Kilometer vor Paris. Franzosen und Engländer konnten dies im September jedoch drehen. Die Schlacht an der Marne als entscheidender Sieg der Entente war ein erster Wendepunkt des Kriegsverlaufes. Durchbruchsversuche nach Osten scheiterten aber an der sich festigenden deutschen Front. In Belgien hingegen ging der deutsche Vormarsch weiter. Man nahm Antwerpen, Gent, und Brügge. Ab Oktober befand sich Belgien fast vollständig in deutscher Hand. Beim folgenden „Wettlauf zum Meer“ bewegten sich die gegnerischen Armeen beinahe parallel in Richtung Nordsee. Beiden Kriegsparteien hatten die Absicht den Gegner an seiner Flanke zu umgehen und so schnell einen Sieg zu erzwingen. Auf reichsdeutscher Seite kam man nach heftiger Gegenwehr vor Ypern zum Stehen. Aber auch den Alliierten gelang hier weder eine Umfassungsbewegung zur Kesselung deutscher Verbände oder ein relevanter Durchbruch. Die Westfront erstarrte zum Stellungskrieg. Von der Kanalküste im Norden bis zu den Vogesen im Süden bauten beide Seiten ihre Stellungen nun zu starken Defensivbollwerken aus. Die Erstürmung dieser verschanzten Anlagen war nahezu unmöglich. Ab Ende Oktober 1914 versuchten die deutschen Truppen immer wieder, noch ungefestigte Verteidigungslinien der Entente aufzuklären und zu durchbrechen.
Schlacht bei Langemarck
Einer dieser Vorstöße erfolgte am 10. November 1914 morgens um halb sieben in der Nähe der belgischen Stadt Ypern. Dort lagen neu aufgestellte deutsche Truppen, darunter viele noch unerfahrene Kriegsfreiwillige der deutschen Jugend. Es war noch stockfinster, als auf ein Pfeifsignal hin die Soldaten ihre Gräben verließen und sich mit aufgepflanzten Bajonetten mühsam ihren Weg durch aufgeweichte Äcker und Wiesen zur nächste Hügelkette bahnten. Langemark, nach alter deutscher Schreibweise mit „ck“ geschrieben, war nicht unmittelbarer Austragungsort, sondern lag einige Kilometer abseits. Tatsächlich stattgefunden haben die Kampfhandlungen hingegen sechs bis acht Kilometer nordwestlich beim Dorf Bikschote, auf den Feldern am Ostufer des Yserkanals, der die Flüsse Lys und Yser miteinander verband. Die 45. und 46. Reserve-Division des 23. Reserve-Korps, sowie die dem 3. Reserve-Korps unterstellte 44. Reserve-Division griff dabei mit etwa 12.000 Mann auf fast vier Kilometern Breite an, konnte gut einen Kilometer weit vordringen und dabei Teilen den Yser-Kanal sichern. Die geplante Einnahme von Langemark selbst war nicht gelungen. Aufgrund der Unerfahrenheit der eingesetzten Soldaten waren schwere Verluste von über 2.000 Mann zu beklagen.
Mythos Langemarck
Schon am nächsten Tag prange auf dem Titelblatt fast jeder Tageszeitung des Deutschen Reiches, teils auch im verbündeten Kaisertum Österreich ein Auszug aus einem Bericht der Obersten Heeresleitung: „Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Etwa 2000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangengenommen und sechs Maschinengewehre erbeutet.“ Der Mythos der jungen Soldaten die singen auf den Feind zueilten wurde schnell zum Ausdruck höchster Opferbereitschaft und innigster Vaterlandsliebe. Doch es wurden Zweifel laut. Schon in der Weimarer Republik schrieben liberale Journalisten immer wieder der Angriff sei nicht nur unsinnig, sondern vor allem die Gesangs-Erzählung frei erfunden gewesen. Heute ist diese Infragestellung der Vorgänge ein Standardbaustein in Artikeln zur Langemarckschlacht. Angreifenden Soldaten sei es unmöglich zu singen, so das Argument.
Und sie sangen doch!
Eine falsche Behauptung. Dabei hätten die Tintenritter die seit über 100 Jahren versuchen, zu erklären, was im Schlachtgeschehen möglich ist und was nicht, nur ihren Beruf gewissenhaft ausüben müssen. Hätte man anstatt militärischer Machbarkeitsanalysen eine ordentliche journalistische Recherche betrieben, so wäre man auf die unzähligen gegnerischen Erzählungen gestoßen, die die Szene bezeugen. Der Bericht über die im Angriff singenden Deutschen stammt nämlich nicht zuletzt vom darüber erstaunten Gegner. Der Mythos ist somit belegbar. Ungeklärt bleibt hingegen, warum es so großen Teilen der Systempresse immer wieder ein Anliegen ist, Heldentaten des eigenen Volkes zu relativieren.
Kein Wunder, dass ein derart außergewöhnlicher Vorgang zahlreich in Denkmälern, Gedichten und Liedern geehrt wurde. So würdigt ein national-romantischer Liedtext aus der Zeit nach dem Krieg das Geschehene etwa mit den Zeilen: „Sie haben so brav gestritten, den bittren Tod erlitten. Getrunken, als wäre es Wein. Sie liefen mit Gesange, es war ihnen gar nicht bange, weit in den Feind hinein. Und noch im Taumel des Falles klang Deutschland über alles, über alles in der Welt!“ Zwischen 1914 und 1945 entstanden im ganzen deutschen Raum unzählige Gedenksteine und Erinnerungsstätten für die Gefallenen von Langemarck.
Wir Deutschen – das „unbegreifliche“ Volk
Wer waren die Soldaten, die da gesungen haben? Kriegsfreiwillige Notabiturienten, Schülern, Lehrlingen, Studenten, Landwehrmänner und Reservisten. Es waren jene die, um es mit den Worten Ernst Jüngers zu sagen, vom „fröhlichen Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen“ geträumt hatten. Die denen das Herz so voll des Vaterlandes war, dass es ihnen im Tode auch aus dem Mund quellen musste. Das Vaterland, das jenen, die da stürmten, über alles in der Welt ging. Immer wieder wollten antideutsche Kräfte in diesen Zeilen einen Weltmachtsanspruch hören. Aber die singenden Soldaten setzten ihr Vaterland nur höher als das eigene Leben! Nach dem Ersten Weltkrieg erhob der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert das Lied zur Nationalhymne.
Man hat uns Deutsche in der Geschichte immer wieder geliebt oder gefürchtet. Nicht ob Stärke oder Macht – sondern weil wir unbegreiflich waren. Unbegreiflich in unserer Mischung aus Tatkraft und Romantik. Da ist dieses Volk im Herzen Europas, voll alter Sagen, zwischen tiefen Wäldern, schroffen Bergen und der rauen Nordsee. Und nicht nur kämpft es in Unterzahl noch 1918 Nibelungen gleich. Nein, während es malerische Bauernhäuser mit Balkonblumen schmückt, fertigt es zugleich die fortschrittlichste Technik, die je gedacht wurde. Es ist reich an Dichtern und Denkern, doch zugleich auch an Chemikern und Ingenieuren. Ein Volk, wie aus einer anderen Welt.
Die Angst vor dem Eigenen
Der seelische Grenzgang ist wohl tief in unser Volkswesen eingewebt. Vielleicht ist es dieser Charakterzug, der uns auch ein Fürchten vor uns selbst eingebracht hat. Der uns heute unser Eigenes gespenstisch macht. Doch kann die Antwort darauf nicht sein, unser Wesen zu verleugnen. Vielmehr gilt es, im Rahmen unserer eigenen Identität in bestem Wollen zum Wohl unseres eignen Glückes und dem der anderen Völker zu wirken.
Der Erste Weltkrieg gilt als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts – zurecht. Doch bringen die grimmigsten Schrecken auch das edelste im Menschen zum Vorschein – der Opfergang von Langemark, er zählt hierzu. Friedrich Nietzsche schrieb: „Heroismus – das ist die Gesinnung eines Menschen, welcher ein Ziel erstrebt, gegen das gerechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt. Heroismus ist der gute Wille zum Selbst-Untergang.“
Im Herzen Deutschlands, im malerischen Eisenach, nahe der Wartburg steht auf einer bewaldeten Hügelkuppe die „Langemarck-Gedenkstätte“ der Deutschen Burschenschaft. Auch viele Verbindungsstudenten waren am 10. November beteiligt, teils das Burschenband unter dem Waffenrock um die Brust geschlungen. 1932 in Auftrag gegeben ist das Denkmal Ehrenort für alle Gefallenen der Jahre 1914 bis 1918. Derzeit wird die Anlage um mehrere hunderttausend Euro saniert. Wer die Erhaltung dieser Weihestätte deutschen Opfermutes unterstützen möchte, kann dies auf der Internetseite des Denkmalerhaltungsvereins Eisenach tun.