Dönitz-Affäre: Als ein Zeitzeuge vor Schülern sprach und ein Direktor sich das Leben nahm

Am 22. Jänner 1963 – also vor mehr als 60 Jahren – ereignete sich ein Kuriosum der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, welches als Paradebeispiel für den neurotischen Umgang Deutschlands mit seiner eigenen Geschichte dienen kann. Es geht um einen Vortrag, einen medial erzeugten Skandal und einen Selbstmord.

22. Januar 1963. Das Staatsoberhaupt des Dritten Reiches steht als Zeitzeuge am schleswig-holsteinischen Otto-Hahn-Gymasium der versammelten Schülerschaft Rede und Antwort. Nein, natürlich nicht Adolf Hitler, der ist ja bereits fast 18 Jahren tot. Sein Nachfolger. Testamentarisch hatte „der Führer“ dem deutschen Marineoffizier Karl Dönitz die Reichsführung übertragen. Als solcher verwaltete dieser die letzten Tage des Reiches. „Schluß machen, Heldenkampf ist genug gekämpft, Volkssubstanz erhalten, keine unnötigen Blutopfer mehr“, lautete hierbei sein Ansatz. Dönitz ist heute dafür bekannt, dass er sich an der Zeit nach dem Krieg orientierte: Er ließ Zerstörungsmaßnahmen an deutscher Infrastruktur beenden und fokussierte sich darauf, die ostdeutsche Bevölkerung vor der anrückenden Roten Armee zu evakuieren. Der neue Reichspräsident und Reichskanzler übte sein Amt bis zum 23. Mai aus, dann wurde die Regierung Dönitz von den Alliierten abgesetzt und verhaftet. Im Zuge des Nürnberger Tribunals zu zehn Jahren Haft verurteil, lebte er nach seiner Entlassung mit seiner Frau in Aumühle bei Hamburg – ganz in der Nähe des Otto-Hahn-Gymnasiums.

Einer von vielen Gästen

An dieser Schule diskutierten die Schüler der oberen Jahrgänge zu dieser Zeit im Rahmen so genannter „Geschichtsfragestunden“ regelmäßig mit Politikern, Gewerkschaftsmännern oder Offizieren. Für die siebte Fragestunde diese Art hatte der damalige Schülersprecher und spätere schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel den ehemaligen Großadmiral der Kriegsmarine, Karl Dönitz, eingeladen. Dieser nahm die Einladung an und sprach am 22. Januar 1963 vor einem Publikum von rund 200 Mädchen und Jungen der Klassen 11, 12 und 13, sowie dem Lehrpersonal. Alle konnten ihm anschließend Fragen stellen. Thema seines Vortrags: „Der 30. Januar 1933 und seine Folgen“. Doch dieser Zeitzeugenbericht besonderer Art zog ungeahnte Folgen nach sich. Unter den Hörern befand sich auch ein Journalist einer örtlichen Zeitung, dessen Sohn das Gymnasium besuchte. Sein Bericht im Lokalblatt sprach von einer „Geschichtsunterricht in höchster Vollendung“ und schilderte den „stürmischen Beifall der Gymnasiasten“.

Ein Eklat wird herbeigeschrieben

Dieser euphorische, subjektive Artikel eines Lokalberichterstatters wurde schließlich auch in den Redaktionsstuben des nahegelegenen Hamburgs gelesen – und die hiesige Journaille konnte es sich natürlich nicht verkneifen, daraus eine Skandal-Gesichte zu weben. Im Spiegel und in der Zeit erschienen sogleich die ersten kritischen Berichte in süffisantem Tonfall. Der norddeutsche Rundfunk legte nach. Bald sprangen internationale Medien auf den Zug auf. Das Narrativ: Hier habe sich wieder einmal die wahre Gesinnung der Deutschen gezeigt. „Der frühere Großadmiral Dönitz hat Hitlers Politik verherrlicht„, titelte etwa die Pariser Le Monde.

Skandalisierung forderte Menschenleben

Daraufhin stattete ein Regierungsrat des Kultusministeriums dem betroffenen Gymnasium einen Besuch ab – ein fünfstündiges „Gespräch“ mit dem Direktor Georg Rühsen inklusive. Der exakte Inhalt des Gesprächs ist nicht bekannt. Kurz nachdem der Regierungsrat gegangen war, schrieb Rühsen seiner Frau einen Abschiedsbrief. „Liebe Lonny, nimm es mir nicht übel. Ich gehe in den Tod.“ Er stürzte sich in die Elbe. Seine Leiche wurde erst Monate später, am 25. April 1963, gefunden. Viele sahen die Schuld für den Selbstmord Medien, die das Thema ins Unermessliche aufgebauscht hatten, sowie bei der politischen Linken, die versucht hatte, damit Stimmung zu machen.

Damals wie heute: Pathologischer Schuldkult

Ein halbes Jahrhundert später lässt sich die Dönitz-Affäre aus der Distanz betrachten – auch wenn der Namensgeber bis heute ambivalent beurteilt wird. Den einen gilt Karl Dönitz nach wie vor als „des Teufels Admiral“, anderen als untadeliger Soldat, der in der Stunde des Zusammenbruchs durch seine Maßnahmen und Entscheidungen hunderttausende Deutsche vor den Gräueltaten der Rote Armee bewahren konnte. Und von vielen Marine-Angehörigen wurde und wird er als legendärer und hochdekorierter Kommandant gesehen – zumindest im Ausland. Denn für seine militärischen Leistungen genoss Dönitz vor allem unter ehemaligen Kriegsgegnern hohes Ansehen und Respekt und galt Ausländern als respektabler Offizier. Kamen Flotteneinheiten der Nato nach Hamburg, machten deren Kommandanten nicht selten Besuche bei Dönitz. Wie so oft gelang und gelingt es Nicht-Deutschen besser, die Geschehnisse rund um den Zweiten Weltkrieg zu historisieren, als uns selbst.

Schuldkult ist Selbstzensur

Einen Zeitzeugen zu Geschehenem zu befragen, ist das naheliegendste im Umgang mit Vergangenem. Dass dies nie völlig objektiv sein kann, ist dabei unerheblich. Gerade weil eine Erzählung immer subjektiv ist, ermöglicht sie Verständnis für eine andere Zeit zu vermitteln. Der Umgang mit dem Dönitz-Vortrag zeig auf, wie vergiftet die bundesdeutsche Erinnerungspolitik bereits zu Beginn der 60er Jahre war. Eine lebende Geschichtsquelle vom Format eines ehemaligen Staatsoberhauptes nicht hören zu wollen, weil er ja für die falsche Sache gestanden habe, ist dumm bis fahrlässig. Es ist eine Selbstzensur am eigenen Denken und Betrachten der Welt.

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