Der Untergang der Wilhelm Gustloff am 30. Jänner 1945 stellt mit über 9.000 hauptsächlich zivilen Opfern die größte Katastrophe in der Schifffahrtsgeschichte dar. Im Vergleich dazu: Beim Untergang der Titanic kamen rund 1.500 Passagiere ums Leben. Der Tragödie gingen die Ereignisse der letzten Kriegsmonate voraus, ohne die der Angriff durch sowjetische Torpedos nicht zu erklären ist. Der Historiker Dr. Peter Wassertheurer zeichnet das tragische Ereignis für den Heimatkurier nach.
In der großen Winteroffensive 1944/45 hatte die Rote Armee rund 1,6 Millionen Soldaten, 25.426 Geschütze, 3.800 Panzer, 3000 Flugzeuge und 2,2 Millionen Geschosse für Raketenwerfer aufgestellt, um auf die deutsche Reichsgrenze vorzumarschieren. Bereits Ende Oktober 1944 war eine Einheit der sowjetischen Panzerbrigade des 2. Korps über die ostpreußische Grenze vorgestoßen und hatte in der Ortschaft Nemmersdorf ein Massaker an der Zivilbevölkerung angerichtet. Der Feind konnte zwar zurückgeschlagen werden, doch Reichspropagandaminister Joseph Goebbels nutzte dieses Verbrechen, um vor dem Heranrücken der „bolschewistischen Bestie“ zu warnen.
Flucht vor den Russen
Vor allem in der Zivilbevölkerung setzte die NS-Berichterstattung Ängste vor mordenden und brandschatzenden russischen Horden frei. Als Ostpreußen im Jänner 1945 endgültig durch den zangenförmigen Angriff vom Reich abgeschnitten war, setzte bei Eiseskälte eine panikartige Fluchtbewegung von 2,5 Millionen ein. Der Gau war nur mehr über die Ostsee mit dem Reich verbunden. Als einziger Fluchtweg blieb nur mehr der Weg über das Meer, um sich in Sicherheit bringen zu können. Die Häfen in Pillau, Hela, Gotenhafen oder Danzig waren die ersehnten Ziele der schutzlosen Zivilbevölkerung. Frauen, Kinder und Greise waren den frostigen Witterungsverhältnissen und sowjetischen Tieffliegern ausgelieferten. Die Männer mussten bleiben, die älteren unter ihnen dienten im Volkssturm. Königsberg wurde zur Festung ausgebaut.
Schon auf dem Eis über das zugefrorene Haff spielten sich menschliche Tragödien ab. Planwägen brachen ein und versanken im eisigen Wasser, Kinder erfroren bei Temperaturen von -20 Grad, der Blutzoll der Ostpreußen durch russische Fliegerangriffe kann nur geschätzt werden. Historische Fotoaufnahmen mit zerfetzten Wägen und festgefrorenen Pferdekadavern legen Zeugenschaft von der Brutalität der sowjetischen Rache ab. An den Ostseehäfen lief dann die größte Evakuierungsaktion auf See an, die von Großadmiral Karl Dönitz am 20. Januar 1945 angeordnet worden war. Mehr als eintausend Kriegs- und Handelsschiffe waren beteiligt. 200 sanken durch Minen und Torpedoangriffe und rissen geschätzte 40.000 Personen in den Tod. Der Todesflotte gehörte auch die Wilhelm Gustloff an. Das Schiff erhielt bei einem Torpedoangriff drei Treffer und versank in den eisigen Fluten der Ostsee. Lediglich 1.230 Personen überlebten.
Der Namensgeber
Wilhelm Gustloff kam 1895 in Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern zur Welt. Wegen eines chronischen Lungenleidens vom Kriegsdienst befreit, reiste Gustloff 1917 zu einem Kuraufenthalt nach Davos in die Schweiz. Gustloff kehrte nach 1918 jedoch nicht mehr in seine deutsche Heimat zurück, sondern der gelernte Bankkaufmann hatte sich für eine endgültige Übersiedlung in die Schweiz entschieden. 1927 trat er der NSDAP bei und begann, in der Schweiz eine NSDAP-Auslandsorganisation aufzubauen, wie es sie in anderen Ländern auf anderen Kontinenten auch gab. NSDAP-Mitglieder, die im Ausland lebten, wurden in einer eigenen Auslandsabteilung (NSDAP/AO) zusammengefasst. Die Aufgabe der NSDAP/AO war die weltanschauliche Schulung und Ausrichtung der Parteigenossen im Ausland auf die ideologischen Belange des Dritten Reichs. Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 baute Gustloff sukzessiv die Schweizer NSDAP/AO aus. Mindestens die Hälfte der 10.000 Auslandsdeutschen in der Schweiz konnte Gustloff als Parteimitglieder gewinnen. Am 4. Februar 1936 wurde Gustloff nach seiner Rückkehr von einer Reise nach Berlin in seiner Wohnung ermordet. Das Attentat führte David Frankfurter durch. Frankfurter studierte Medizin und war 1933 wegen der antisemitischen Stimmung in Deutschland in die Schweiz ausgewandert. Als Motiv für das Attentat gab Frankfurter nach seiner Verhaftung an, dass er als Jude und Einzelperson ein Zeichen des jüdischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus setzen wollte. Er wurde von einem Schweizer Gericht zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Goebbels zeigte sich jedenfalls mit der Arbeit von Staatsanwalt Friedrich Grimm zufrieden und notierte am 22. Jänner 1937 in sein Tagebuch: „Prof. Grimm erstattet Bericht vom Gustloff-Prozess. Die Juden haben alles auf die Beine gestellt, um uns bloßzustellen. Aber unsere Prozessführung war überlegen. Die Juden sind doch dumme Teufel. Vor allem Grimm hat seine Sache ausgezeichnet gemacht.“ Frankfurter wurde nach dem Krieg im Sommer 1945 begnadigt, emigrierte nach Palästina und fand im israelischen Verteidigungsministerium eine Beschäftigung. Gustloffs Leichnam wurde nach Schwerin überführt, wo für ihn als „Blutzeugen der Bewegung“ ein öffentlicher Trauermarsch organisiert wurde. Hitler sprach bei seiner Trauerrede davon, dass sich mit diesem Attentat der Jude und seine Hintermänner erstmals als Feind enttarnt haben. Eine antijüdische Protestwelle unterblieb allerdings. Für die Zurückhaltung des NS-Regimes war wohl der Beginn der Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen verantwortlich.
Kraft durch Freude (KdF)
Die Deutsche Arbeiterfront (DAF) wurde mit dem Ziel gegründet, den deutschen Arbeiter derart in das wirtschaftliche Leben der deutschen Nation zu integrieren, dass er zum Nutzen der Volksgemeinschaft seine höchste Leistungsbereitschaft entfaltet. An der Spitze der DAF stand Robert Ley. Ende November 1933 wurde nach Vorbild der italienischen Dopolavoro (Nach der Arbeit) die NS-Organisation Kraft durch Freude (KdF) ins Leben gerufen. Neben ideologischer Bildung soll Hitler über die Ziele der KdF gesagt haben, dass dem deutschen Arbeiter ausreichend Urlaub gewährt werden solle, denn nur mit einem nervenstarken Volk könne man große Politik machen. Die KdF organisierte über ihre Unterorganisationen ein facettenreiches Freizeitangebot und gestaltete großzügige Urlaubsreisen im In- und befreundeten Ausland. Dabei sollten gesellschaftliche Schranken überwunden und das nationale Volksbewusstsein durch ein völkisches Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden. In den deutschen Werften wurde eine eigene KdF-Urlaubsflotte gebaut. Ihr gehörten u.a. die Wilhelm Gustloff, die Robert Ley, die Stuttgart, die Oceana oder Der Deutsche an.
Die Gustloff als KdF-Schiff
Am 5. Mai 1937 lief die Wilhelm Gustloff vom Stapel. Eigentlich hätte das Kabinenschiff auf den Namen des Führers getauft werden sollen, aber Hitler lehnte ab und schlug Gustloff als Namensgeber vor, obwohl der Schweizer NS-Landesgruppenleiter nicht zum engsten Führungskreis in der Parteihierarchie zählte. Hitlers Entscheidung war wohl von Gustloffs Ehefrau Hedwig, geborene Schoknecht beeinflusst worden. Sie war früher eine von Hitlers Sekretärinnen gewesen. Hitler persönlich wohnte der Taufe des komfortablen KdF-Schiffs bei, das Betten für rund 1.500 Fahrgäste und 430 Besatzungsmitgliedern bot.
Es gab auch eine Führerloge, doch Hitler war nie als Passagier auf diesem KdF-Luxuskreuzer. In Anlehnung an das KdF-Ideal von der klassenlosen Volksgemeinschaft galt die Wilhelm Gustloff als „klassenloses Schiff“, das allen Passagieren den gleichen Luxus zur Verfügung stellte. Die Fjorde in Norwegen und die sonnenverwöhnten Häfen an der adriatischen Küste waren die begehrten Ziele im befreundeten oder verbündeten Ausland, die Arbeiter, Angestellte oder Abordnungen von NS-Organisationen zu günstigsten Konditionen zu Gesicht bekamen. Landgänge wurden nur selten angeboten. Auf dem Schiff selbst gab es bei Tanz und Musik ein reichhaltiges Unterhaltungs- und Kulturprogramm. Es gab eine Bibliothek und Speisesäle mit 860 Sitzplätzen.
Lazarettschiff im Krieg
Die KdF-Urlaubsfahrten der Wilhelm Gustloff fanden im Krieg ein abruptes Ende. Aus dem Kreuzfahrtriesen wurde ein Lazarettschiff und in dieser Funktion der reichsdeutschen Kriegsmarine übergeben, um bei Verwundetentransporten in Einsatz zu kommen – das Schiff war in dieser Funktion mit der Flagge des Roten Kreuzes gekennzeichnet. Ab November 1940 diente die Wilhelm Gustloff in Gotenhafen (pol. Gdynia) in der Danziger Bucht als Lehrschiff der Kriegsmarine. Die weiße Farbe verschwand und das Schiff erhielt einen marinegrauen Tarnanstrich.
Die letzten Stunden
Am 30. Jänner 1945 legte die Wilhelm Gustloff von Gotenhafen ab. Rund 10.300 Personen sollen sich auf dem völlig überfüllten Schiff befunden haben. Die große Mehrheit der Passagiere waren zivile Personen, vornehmlich Flüchtlinge. Ihre Zahl wird mit 8.800 bis 9.000 angegeben. Hinzu kamen noch 1.500 Wehrmachtsangehörige, 160 Verwundete, über 500 männliche und weibliche Marinehelfer sowie 918 Marinesoldaten, die der 2. U-Boot-Lehrdivision angehörten. Die Gustloff transportierte zudem Kriegsgerät. Flakgeschütze waren montiert. Für den russischen Feind galt die Wilhelm Gustloff als Kriegsschiff. In Wahrheit war es ein Lazarett- und Flüchtlingsschiff. Eskortiert wurde sie vom Torpedoboot Löwe. Vier Kapitäne leiteten das Schiff, unter denen wegen der ständigen U-Bootgefahr Uneinigkeit über die Route herrschte. Korvettenkapitän Wilhelm Zahn schlug vor, in Küstennähe durch seichtes Gewässer zu fahren, denn dort sei man vor U-Booten sicher. Kapitän Friedrich Petersen fürchtete jedoch, durch die Überladung auf Grund zu laufen und führte das Schiff in tieferes Gewässer. Positionslichter wurden zur besseren Orientierung für eine Dauer von eineinhalb Stunden eingesetzt.
Ein Funkspruch der Kriegsmarine hatte nämlich auf ein entgegenkommendes Minensuchgeschwader aufmerksam gemacht. Dieses Geschwader befände sich im Schneegestöber auf Konfrontationskurs mit der Wilhelm Gustloff. Für die sowjetischen U-Boote konnte das beleuchtete Schiff leicht ausgemacht werden. Nach 21 Uhr, rund sechzig Kilometer vor der pommerschen Küste, geriet die Wilhelm Gustloff auf Höhe von Stolpmünde ins tödliche Fadenkreuz des sowjetischen U-Boots S13. Kommandiert wurde es von Alexander Marinesko, der, wie Günter Grass in seiner Novelle „Im Krebsgang“ beschreibt, wegen seiner Trunksucht und Unzuverlässigkeit beim sowjetischen NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) in der Kritik stand. Noch vor seiner Fahrt am 30. Jänner 1945 soll er betrunken nach durchzechter Nacht seinen Dienst als Kommandant angetreten haben und musste, spätestens nach dem Einlaufen im russischen Heimathafen, mit ernsten Konsequenzen rechnen. Die Versenkung eines faschistischen Feindschiffes würde ihn, so mutmaßte Grass in seinem Buch, vor einer jahrelangen Zwangsarbeit in Sibirien bewahren. Außerdem rechnete er damit, nach dieser Heldentat als Held der Sowjetunion gefeiert zu werden. Wenige Tage nach der Wilhelm Gustloff versenkte er dann auch noch die General von Steuben mit 4.000 Opfern – wieder waren es deutsche Flüchtlinge.
Das Sterben auf der Wilhelm Gustloff
Der erste Torpedo traf die Wilhelm Gustloff backbord. Es gerät sofort in Schlagseite. Der zweite schlug im Bereich des entleerten Schwimmbads ein. In dessen Becken schliefen vor allem Marinehelferinnen. Der dritte zerstörte den Maschinenraum. Schlagartig stellten die Maschinen mit einer Leistung von 9.000 PS ihre Arbeit ein, der Strom fiel aus. Unmittelbar nach dem Einschlagen der todbringenden Torpedos sendete die Wilhelm Gustloff Notfunksignale ab. Die damals hochmoderne Seefunkanlage mit großer Reichweite versagte, da es keinen Strom mehr gab. Rettungsschiffe wie das Torpedoboot Löwe, das Flottentorpedoboot T 36 oder die beiden Minensucher M341 und 375 eilten zur Hilfe.
Rettungsboote der Gustloff wurden heruntergelassen, doch wegen der Vereisung der Halterungen war es der Besatzung nur möglich, einige wenige zu Wasser zu lassen. Getrieben von Todesangst entbrannte ein Kampf um jeden freien Platz. Mit Warnschüssen trachteten die Matrosen danach, die in Panik geratene Masse unter Kontrolle zu halten. Aus dem Schiffsinneren drängen tausende von verzweifelten Menschen. Sie schrien und schlugen um sich. Beim Versuch, auf das Deck zu gelangen, rutschten die verzweifelten Menschen auf den vereisten Sprossen oder Deckplanken aus und stürzten wegen der Schieflage des Schiffs ins eisigkalte Wasser. Kinder, die in diesem Tumult ihre Angehörigen verloren hatten, brüllten weinend um ihre Mütter, Tanten oder Omas, sie fielen hin und wurden zu Tode getrampelt. Ihre Körper kippten über die Reeling, stürzten in die Ostsee, wo sie ertranken. Matrosen der eintreffenden Rettungsschiffe suchten mit Scheinwerfern die Wasseroberfläche ab. Ihre Lichtkegel trafen aber oft nur mehr auf dahintreibende Leichen von Kindern und Frauen.
Heinz Schön, Marinesoldat und Überlebender, hat es sich bis zu seinem Tod zur Aufgabe gemacht, diese schreckliche Katastrophe aufzuarbeiten. Er erinnert sich als Zeitzeuge: „Man muss sich vorstellen, dass im selben Moment 10.000 Menschen gleichzeitig nach oben wollten. Die Leute strömten auf diese Treppen, und die Leute, die gefallen waren, konnten nicht mehr aufstehen. Die Masse ging einfach über diesen Teppich von toten Leibern und noch lebenden Menschen hinweg. Ich selbst habe versucht, auf die Treppe zu kommen. Ich bin dann in einen Wust, ein Knäuel von Menschen gekommen, habe unter mir schon nichts mehr gespürt.“ Die letzten Eindrücke der Überlebenden von der Wilhelm Gustloff waren nach Zeugenberichten gespenstisch, denn bevor sie sank, hatten sich die Notaggregate eingeschaltet und die Notbeleuchtung auf dem Schiff war angegangen.
Die Wilhelm Gustloff und das Völkerrecht
Nach Meinung vieler Experten entsprach die Versenkung der Wilhelm Gustloff damaligem Kriegsrecht. Sie diente nämlich der deutschen NS-Kriegsmarine, führte Soldaten und leichtes Kriegsgerät, zudem war die Wilhelm Gustloff nicht als Lazarettschiff mit der Rot-Kreuz-Fahne gekennzeichnet. Auch wenn alle diese Fakten den historischen Tatsachen entsprechen, waren unschuldige Zivilisten die Opfer. Bis heute gibt auch der Funkspruch über das angebliche deutsche Minensuchgeschwader Rätsel auf. Einem solchen Geschwader war die Wilhelm Gustloff nicht begegnet. Hatte es sich bei diesem Funkspruch um eine absichtliche Falschmeldung gehandelt, um das Schiff von der Küstennähe wegzulocken? Den falschen Funkspruch sollen deutsche Kriegsgefangene im sowjetischen Auftrag abgegeben haben. Sollte diese Theorie der Wahrheit entsprechen, wurde die Wilhelm Gustloff im Wissen um die tausenden Flüchtlinge versenkt. Dann wäre die Behauptung, Marinesko habe die Wilhelm Gustloff mit einem Kriegsschiff verwechselt, nicht länger zu halten, und die Tötung von 9.000 Zivilisten nicht mehr kriegsrechtlich gedeckt. Dennoch wurde Marinesko 1990 unter Michael Gorbatschow posthum zum Helden der Sowjetunion erklärt.
Dr. Peter Wassertheurer ist Historiker, Autor und Journalist. In seinem Roman “Heute aber braucht mich die Heimat” schildert der Autor das grausame Schicksal der Volksdeutschen, das mit der vermeintlichen „Befreiung“ am 8. Mai 1945 seinen Lauf genommen hat. Das Buch selbst ist bei Interesse direkt vom Autor ([email protected]) oder beim Verlag zu beziehen.