Das Migrationsproblem existiert nicht erst seit 2015, sondern seit Jahrzehnten. Das zeigt etwa ein Blick auf Heinrich Lummer, einem Berliner CDU-Senator der 80er-Jahre. In seinem Beitrag skizziert der Publizist Benedikt Kaiser dessen migrationskritisches Werk und stellt fest: Lummer ging in der Analyse weiter als viele patriotische Innenpolitiker heute.
Ein Beitrag von Benedikt Kaiser (zuerst erschienen auf: sezession.de)
Die Remigrationsdebatte, die durch »Potsdam« ausgelöst wurde, krankt im patriotischen Lager daran, daß der Eindruck entsteht, es gebe lediglich »Maximalisten« (Remigration pur et dur) und »Minimalisten« (Assimilation um jeden Preis). Zwischentöne – etwa: harter Remigrationskurs bei Illegalen, Kriminellen, Nichteuropäern ohne Bleiberecht usw., rechte Angebote hingegen für Integrierte – sind nunmal in hysterischen Zeiten weniger gefragt, weil sie weniger Schlagzeilen produzieren. Sie kommen aber gleichwohl vor; im AfD-Kontext ist hier Maximilian Krah zu nennen.
2015 als Zäsur?
Die Remigrationsdebatte krankt aber auch daran, daß immer wieder »2015« als Zäsur überbeansprucht wird. Liest man bisweilen Stellungnahmen von vorzugsweise liberalkonservativen Politikern und Journalisten, drängt sich der Eindruck auf, vor Merkels fehlender Grenzschließung wäre die demographische Situation eine wesentlich andere gewesen. Das war sie nicht. Da es in besagten Kreisen eine gewisse Affinität zur »guten alten Union« der 1980er und 1990er Jahre gibt, die freilich darauf beruht, daß man ausblendet, daß die Entwicklungen der Merkel-Ära in der vorhergehenden Kohl-Epoche bereits angelegt waren, bietet es sich an, tatsächlich ein mal ins Gestern zu einem Christdemokraten alter Schule zu blicken, konkret: zu Heinrich Lummer.
Schonungsloser Blick
Lummer (1932–2019) war in den 1980er Jahren für fast sechs Jahre Senator für Inneres in Berlin. In der CDU war er gefürchtet dafür, einen schonungslosen Blick auf die damals bereits verfestigte Migrationspolitik der offenen Tür zu pflegen. Gewiß: Er war nicht so unduldsam und »radikal« wie Robert Hepp oder Hans-Dietrich Sander. Aber blickt man in zwei exemplarische Texte von Lummer, stellt man fest, daß fast 30 (!) Jahre vor der Zäsur von 2015 die Probleme durchaus sehen konnte, wer es denn eben sehen wollte. In seiner Schrift Standpunkte eines Konservativen (Krefeld 1987) schrieb Lummer nüchtern:
Der deutsche Asyl-Sonderweg
Das deutsche Asylrecht ist lapidar geregelt und einzigartig in der Welt. Die besonderen Probleme, die die Bundesrepublik Deutschland mit dem Asylantenstrom hat, entspringen weitgehend dem Sonderweg, den die Bundesrepublik Deutschland in dieser Frage gegangen ist, und, was Lummer nicht mehr erleben mußte, seit den Ampel-Machenschaften eine neue Dynamik entfaltet. Lummer verweist auf eine entscheidende historische Konstellation: Das deutsche Asylrecht entstand zu einer Zeit, da Deutschland in Trümmern lag und gewiß keinen Anziehungspunkt für Wirtschaftsflüchtlinge darstellen konnte, was damals, als Lummer diese Zeilen geschrieben hatte, bereits anders war.
Vom Aus- zum Einwanderungsland
Da das Asylrecht der BRD kreiert wurde, als das Land noch ein »Auswanderungsland« gewesen ist, wie der Jurist Helmut Quaritsch formulierte, seien die Erfordernisse offenkundig, es zu überarbeiten. Liest man Lummers Analyse der Zuwanderungslage von vor 37 Jahren, ist man erstaunt, wie präzise er die Grundproblematik seiner Leserschaft darlegte und entsprechende Ausblicke auf Kommendes gewährte. Erstaunt ist man aber auch darüber, daß er schon damals – ähnlich wie heute – nach Dänemark blickte, um aufzuzeigen, wie alternative Migrationspolitik aussehen könnte. Es wurde nicht ernstgenommen, sondern als »Alarmismus« verworfen.
Heimatnahe Unterbringung von Flüchtlingen
Zeitlos – und daher zu zitieren – ist derweil Lummers grundsätzliches Plädoyer für heimatnahe Unterbringungen von Flüchtlingen: Nur eine an weltfremden Vorstellungen orientierte Problemsicht kann Sinn und Rechtfertigung darin erkennen, daß nach Tausenden und Zehntausenden zählende Flüchtlingsströme sich über die Grenzen von Kontinenten hinweg in Bewegung setzen, um auf Dauer in einem Teil der Welt seßhaft zu werden, dessen Sprache sie nicht sprechen, dessen Kultur nicht die ihre ist und dessen Mentalität ihnen fremd ist. Vielmehr ist es ein Gebot der Menschlichkeit, Flüchtlingen das Unterkommen nach Möglichkeit in einem Land zu ermöglichen, das derselben Erdregion zugehört, in der sie beheimatet sind. Und Lummer schloß: Die Umsiedlung in eine Region gänzlich anderer zivilisatorischer und kultureller Prägung führt fast zwangsläufig zu Entwurzelung, Identitätsverlust und Entfremdung, die eine an sich selbstverständliche Rückkehr in die Heimat nach dem Wegfall der Gefährdung erschweren oder unmöglich machen.
Sarrazin, Maaßen und Co. vorweggenommen
Lummer legte fünf Jahre später nach. In seiner Studie Asyl. Ein mißbrauchtes Recht (Frankfurt/M. u. Berlin 1992), die bei Ullstein, also einem großen Publikumsverlag, in hoher Auflage erschien, nahm er Sarrazin, Maaßen und Co. vorweg und überholt dabei, liest man das Buch nach heutigen Maßstäben, die AfD von rechts. Ein Zwischenkapitel, das die Überschrift »Ohne Abschiebung geht es nicht« trägt, könnte heute als Leitartikel zur 2024er Gemengelage durchgehen: Viel ist nicht nötig, um sich auf Dauer in Deutschland niederzulassen. Weder Geld noch besondere Fähigkeiten sind erforderlich. Man muß sich lediglich als »Flüchtling« aus einer unsicheren Weltgegend präsentieren, um zunächst geduldet zu werden. Je länger der Ausländer aber geduldet wird, desto größer sein Anspruch, auch weiterhin geduldet zu werden.
Zum Schaden der Deutschen
Auch diese eherne Grundsatz der bundesrepublikanischen Einwanderungspolitik, der heute seine volle Wirkung entfaltet, habe „natürlich überhaupt nichts mit dem Asylrecht für politisch Verfolgte oder den Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention zu tun.“ Daher habe sich die Praxis verfestigt (1993, nicht 2015!), daß das »Ausländerrecht zum Schaden der Deutschen« ausgenutzt werde, Tendenz: Es werde schlimmer. Heute festzustellen, daß Heinrich Lummer die migrationspolitischen Entwicklungen prophezeite und ein großes Publikum fand (ohne metapolitische Veränderungen bewirken zu können), ist nicht das allein Entscheidende; auch nicht, daß er selbst infolge der genannten Publikationen einer logischen Abfolge gemäß schrittweise nach »rechts« wanderte und denunziert wurde.
Das Problem geht tiefer
Das Entscheidende ist vielmehr, daß man einen Schritt zurück tritt, um seinen Blick für die Tragweite der Problematik zu weiten. Nicht Merkel und Schäuble oder Scholz und Faeser waren bzw. sind qua eigener Motivation die entscheidenden Migrationstreiber; eine entsprechende personalisierende Migrationskritik ist daher populistisch zielführend, aber thematisch zu kurz gedacht. Auch sind die redundanten Verweise auf 2015ff. nicht ausreichend; es entlastet ja sogar die vorhergehenden Koalitionen von ihrer entscheidenden Verantwortung für die demographische Entwicklung im Land. Daher sind das von Lummer als anachronistische und zu reformierende Regelwerk sowie die fehlende Aktualisierungsbereitschaft desselbigen in einer volksorientierten und damit zuwanderungskritischeren Weise als bisher in den Vordergrund des eigenen »Diskurses« zu stellen.
Das Ende des Linksrutsches
Daß dabei Alt-Christdemokraten wie Heinrich Lummer in ihrer programmatischen Analyse der Lage weiter gingen als viele patriotische Innenpolitiker heute, obwohl Lummer in den fernen 1980er Jahren über die Herausforderungen der anhaltenden Zuwanderung nachdachte, spricht jedenfalls Bände über die Nachwirkungen des gesamtgesellschaftlichen Linksrutschs der letzten Jahrzehnte. Es ist dies ein Linksrutsch, der heute an sein Ende kommt. Die anhaltende Hysterie rund um das Thema »Remigration« bestätigt dies nur.
Dieser Beitrag ist zuerst auf der Netzseite der Zeitschrift Sezession erschienen. Die Wiederveröffentlichung am Heimatkurier erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.