Heute jährt sich zum elften Mal der Todestag des Aktivisten und „meditativen Historikers“ Dominique Venner. In einem seiner letzten Schriften widmete er sich dem sogenannten „Schock der Geschichte“. Dieser biete den Europäern die Chance, aus ihrem Dämmerschlaf zu erwachen und eine identitäre Wiedergeburt einzuleiten. Doch was hat Venner darunter genau verstanden und welche Lehren können wir daraus ziehen? Heimatkurier-Chefredakteur Philipp Huemer kommentiert.
Ein Kommentar von Philipp Huemer
Um zu verstehen, was Venner mit dem Konzept des „Schocks der Geschichte“ zum Ausdruck bringen möchte, muss man sich zunächst mit seiner Interpretation der europäischen Geschichte auseinandersetzen. Es ist nicht einfach, diese im Rahmen eines Artikels kompakt und nachvollziehbar zusammenzufassen – ich möchte es dennoch versuchen.
30.000 Jahre Identität
Ausgangspunkt für Venner ist die jahrtausendealte Geschichte und Tradition der Europäer, die er mit der Bezeichnung „30.000 Jahre Identität“ umschreibt. Die Bedeutung, die Venner dem Begriff der Tradition verleiht, hat dabei keineswegs etwas mit reaktionären Reflexen oder verstaubten Ansichten zu tun. Er fasst diese nicht als eine konkrete Form oder Institution der Vergangenheit auf, sondern als „das, was nicht vergeht“. Tradition fungiert für Venner als eine Art innerer Kompass und als Quelle der Normen, an denen wir unsere Existenz und unsere Lebensführung ausrichten können: „Die Vergangenheit wirkt in unserem Unbewussten. Unter dem wechselnden Erscheinungsbild lebt das Ewige, die stabile Achse im Zentrum des sich drehenden Rades der Veränderung. Sicher, was einmal war, wird nie wieder sein. Die alten Formen werden nicht wiederkehren, doch das, was immer war, wird wieder zutage treten. […] Die Tradition ist nicht die Vergangenheit, sondern im Gegenteil das Unvergängliche, das in verschiedenen Formen immer Wiederkehrende.“
Volks als Träger der Identität
Doch diese Tradition existiert nicht im luftleeren, geistigen Raum. Grundlage für ihr Fortbestehen ist vielmehr die Existenz einer Gruppe miteinander verwandter und in Beziehung stehender Menschen, die gemeinsam ein Volk bilden. Die biologischen Merkmale und das geistige Erbe eines solchen Volkes müssen durch Fortpflanzung sowie die Schaffung einer entsprechenden Umwelt (= Kultur) durch die Jahrhunderte weitergetragen werden. In unserem Fall reicht dieses Erbe weit in die Vor- und Frühgeschichte, bis in die Zeit der Indoeuropäer zurück.
Die Antike
Der Ausgangspunkt für Venners Geschichtsbetrachtung ist das antike Griechenland, für dessen Charakterisierung er die Epen Homers heranzieht. Er interpretiert die Ilias und die Odyssee als spezifische Verkörperung einer indoeuropäischen Geistigkeit. Gleichzeitig verknüpft er diese Geisteshaltung mit der politischen Form der polis, also des griechischen Stadtstaates. Mit dieser Interpretation lehnt sich Venner stark an das Werk des französischen Philosophen Pierre Manent an. In seinem essayistischen Werk Metamorphoses of the City: On the Western Dynamic entwirft Manent eine Geschichte der politischen Entwicklung des Westens seit der Antike bis heute und identifiziert darin vier maßgebliche politische Formen: die polis, das Reich, die Kirche und den Nationalstaat. Diese unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich formeller Aspekte, sondern sind jeweils durch ein bestimmtes Menschenbild, Religion und eine spezifische Moral gekennzeichnet.
Polis und Reich
Die polis zeichnet sich dadurch aus, dass eine überschaubare Gruppe souveräner Männer sich selbst regiert. Diese sind sich ihrer Souveränität im vollen Ausmaß bewusst. Das Ideal dieser polis ist die öffentliche Tätigkeit, nicht der Rückzug ins Private. Auch die Religion – die durch spezifische Kulte und die Ahnenverehrung gekennzeichnet ist – ist keine individuelle Privatsache des einzelnen Bürgers, sondern durch die Gemeinschaft vorgegeben. Durch die Ausübung und Beachtung der religiösen Rituale und Bräuche wird die Zugehörigkeit und Treue zum jeweiligen Gemeinwesen bestärkt und zum Ausdruck gebracht. Die polis stellt für Venner das politische Ideal der Antike dar. Doch die Geschichte geht bekanntlich weiter – wir gelangen zu den Römern und damit zu einer neuen politischen Form, die durch die weitflächige und großräumige Herrschaft einer zentralen Autorität gekennzeichnet ist: das Römische Reich. Der Kaiser ist bestrebt, innerhalb seines expandierenden Reiches den inneren Frieden aufrecht zu erhalten. Am besten repräsentierte Kaiser Augustus und seine geschaffene pax romana dieses Ideal. Dabei handelt es sich um eine eingeschränkte Form des Universalismus, die in der Dekadenz- und Untergangsphase mit der Entstehung und Verbreitung des Christentums zusammenfällt.
Das Christentum
Das Christentum war in seiner Anfangsphase zunächst nichts anderes als eine der zahlreichen apokalyptischen Sekten der Spätantike, konnte sich im Laufe des Zerfalls des Römischen Reiches aber schließlich durchsetzen. Das religiöse Konzept des Christentums – sein Universalismus und vor allem das Konzept persönlichen Glaubens und der individuellen Verbundenheit jedes einzelnen Gläubigen mit einem Gott – stellt einen radikalen Bruch mit den bislang vorherrschenden, antiken Glaubens- und Religionsvorstellungen dar. Diese Umbrüche im 4. Jahrhundert und ihre weitreichenden Konsequenzen werden hervorragend im Werk The Final Pagan Generation von Edward Watts dargestellt.
Kirche als politischer Akteur
Das Christentum bricht jedoch nicht nur mit traditionellen Glaubensvorstellungen, sondern geht auch mit einer neuen politischen Form einher – der Kirche, die fortan bestrebt ist, nicht nur die geistig-religiöse Herrschaft, sondern eben auch die weltliche Herrschaft auszuüben. Damit tritt sie in Konkurrenz zum Kaiser und zum Reich. Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches und vor den neuen Reichsgründungen der Germanen war zunächst die Kirche die Erbin der römischen Macht. Mit dem Aufkommen germanischer Herrscher wurde dieses Erbe jedoch infrage gestellt. Daraus entstanden vielfältige Konflikte, Machtkämpfe und politische Transformationsprozesse, die die europäische Geschichte fortan maßgeblich bestimmen sollten.
Das Mittelalter
Venner interpretiert die mittelalterliche Geschichte hauptsächlich als Austragung dieses Konfliktes, der nach Manent den Kern des „politisch-theologischen-Problems“ des Westens ausmacht. Es ist das Ringen zwischen der kirchlichen Macht Roms und den politischen Herrschern des Reichs, die sich um die geistige und weltliche Machtausübung streiten. Der Investiturstreit, die Auseinandersetzungen zwischen Papst und den französischen Königen, die Gegenpäpste, die Kreuzzüge, die Auseinandersetzungen der Kirche in England und schließlich die Reformation und der Dreißigjährige Krieg sind Resultate dieses Konfliktes. Durch das Christentum sei laut Manent ein Widerspruch zwischen dem, was Menschen dachten bzw. sagten, und dem, was sie taten, entstanden: „Das Christentum lehrt das zu lieben, was Menschen naturgemäß verachten – ihren Feind – und das zu hassen, was sie naturgemäß lieben – sich selbst“. Im „Gottesstaat“ des Augustinus findet diese revolutionäre Auffassung ihren politisch-theologischen Niederschlag (als Anmerkung: Manent selbst ist Christ und Mitglied in der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften).
Europäische Pseudomorphose
Alain De Benoist schreibt dazu in seinem Werk „Heide Sein“: „Fest steht, daß die Bekehrung zum Christentum den ganzen Ablauf der europäischen Pseudomorphose (Einbau eines Fremden) eingeleitet hat und daß daraus einige Rückwirkungen erfolgten, die letztlich zu einer hybriden Religionskategorie führten. Nachdem der Bekehrungsprozeß in Europa abgeschlossen worden war, stimmten weder die europäische Kultur noch das Christentum mit ihrer jeweiligen Herkunft und Natur überein. Das Christentum hat gewissermaßen, zumindest vorübergehend, den europäischen Menschen verwandelt, aber, wie Spengler es in „Der Untergang des Abendlandes unterstrich, der europäische Mensch hat wiederum das Christentum (möglicherweise ebenso vorübergehend) verwandelt.“
Die Ordnung des Dreißigjährigen Krieges
Venner interpretiert das Aufkommen des Humanismus und der Renaissance als Befreiung von dieser Einengung, einer Rückbesinnung Europas auf die geistigen Wurzeln der Antike und damit als Anfang vom Ende dieser Pseudomorphose. Durch Machiavelli vollzieht sich schließlich die Befreiung der Politik von der christlichen Moral. Der Dreißigjährige Krieg markiert den Beginn der Entstehung früher, absolutistisch-monarchistisch geprägter Nationalstaaten und die Herausbildung einer internationalen beziehungsweise europäischen Friedensordnung, dem sogenannten „Westfälischen Modell“. Das Fundament dafür sind die zivilisatorischen Werte der herrschenden Dynastien, deren gemeinsame Vertretung auf weitverzweigten Verwandtschafts- und Herrschaftsgeflechten beruhte. Dieses System des „alten Europas“ wurde im 19. Jahrhundert durch die Entwicklungen der Industrialisierung, der sozialen Frage sowie verschiedener Demokratisierungs- und Souveränitätsbestrebungen zunehmend fragwürdig. Die von Metternich mit Gewalt und Kerker errichtete Restauration konnte seinen Verfall zwar hinauszögern, doch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges markierte den endgültigen Zusammenbruch.
Das Jahrhundert von 1914
Im darauffolgenden „Jahrhundert von 1914“, wie Venner das historisch erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs beginnende 20. Jahrhundert bezeichnete, versuchten Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus gleichermaßen eine neue europäische Ordnung aufzubauen. Wesentliche Voraussetzung dafür war das Erlebnis der Schützengräben und die dadurch erfolgte Verschmelzung sozialistischer und nationalistischer Ansätze, die einen radikalen Bruch mit der Vorstellungswelt des reaktionären „alten Europas“ sowie der bürgerlich-liberalen Welt des 19. Jahrhunderts gleichermaßen bedeuteten. 1945 markierte schließlich nicht nur die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, sondern auch ein vorläufiges Ende des Versuchs der Schaffung eines „dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus.
Der Kalte Krieg
Als Resultat bestimmten fortan zwei raumfremde Mächte das Schicksal des europäischen Kontinents: die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika, die Europa in zwei Einflusshälften aufteilten und dort ihre jeweiligen ideologischen Vorstellungen (Liberalismus und Kommunismus) durchsetzten. Venner interpretiert diese Ideologien als zwei Seiten derselben Medaille: Universalismus, Gleichheitswahn, „Religion der Menschenrechte“ sowie Verachtung und Gleichgültigkeit für die kulturellen Wurzeln Europas. Diese nach dem Zusammenbruch 1945 errichtete Ordnung war durch die Spannungen des Kalten Krieges gekennzeichnet. Doch 1989 brach die Sowjetunion und damit die kommunistische Herrschaft in Europa zusammen – nicht wenige proklamierten damals den endgültigen Triumph des Liberalismus, der US-Hegemonie und das Ende der Geschichte.
Der Schock der Geschichte
Venner verneinte das stets – und die Entwicklung seither gibt ihm Recht. Vielmehr erlebt Europa seit 1989 einen Schock der Geschichte, der sich durch eine immer deutlicher werdende Rückkehr grundlegender, geopolitischer Fragestellungen auszeichnet. Egal ob Masseneinwanderung, Wirtschaftskrisen, Globalisierung, aufbrechende Konflikte und Kriege oder der Aufstieg neuer Weltmächte – all dies interpretiert Venner als Ausprägungen und Herausforderungen dieses Schocks der Geschichte. Europa muss – wenn es fortbestehen möchte – darauf eine souveräne Antwort finden. Doch gleichzeitig sind die europäischen Völker zum Opfer des Verlustes ihrer identitären Erinnerung geworden. Sie befinden sich seit Jahrzehnten in einer geistigen Krise, die ihnen eine eigenständige Standortbestimmung und ein daraus abgeleitetes, souveränes Handeln verunmöglicht. Für Venner ist daher klar: um die kommenden Herausforderungen zu bestehen, muss Europa zu seinen Wurzeln zurückfinden. Aus diesen muss es seine Kraft schöpfen und eine kulturelle und geistige Renaissance einleiten, die nach Venner die notwendige Grundlage einer politischen Lösung der „Konvergenz der Krisen“ (Benedikt Kaiser) bildet.
Rückkehr zur Tradition
Eine Rückkehr zur Tradition bedeutet für Venner eine Rückkehr zum Ursprung: Zu unseren indoeuropäischen Wurzeln, die er persönlich vor allem mit dem Werk Homers und den heroischen Idealen der Griechen identifiziert: „Für uns Franzosen und Europäer von keltischer und germanischer Abstammung und für all jene, die eine ähnliche oder verwandte Herkunft haben, illustrieren diese Gedichte die einzigartige Originalität unseres Daseins und übersetzen unsere Existenz als Männer und Frauen angesichts des Lebens, des Todes, der Geburt und der Gemeinschaft.“ Die Charaktere der Ilias und Odyssee sollen uns als Vorbilder dienen, jedoch nicht im Sinne einer bloßen Imitation, sondern als Quelle lebendiger, inspirierender Beispiele. Die bewusste Zugehörigkeit zu unserem Volk und der indoeuropäischen Tradition ist nach Venner nicht nur der notwendige Anker für unsere eigene, individuelle Identität, sondern bildet für uns Europäer und Deutsche die Grundlage für die Bewältigung des Schocks der Geschichte.
Gegen den Fatalismus
Aus dieser Einsicht und Erkenntnis hat Dominique Venner seinen unerschütterlichen historischen Optimismus bezogen. Bis zuletzt war er von einem (Wieder-)Erwachen der Europäer aus ihrem Dämmerschlaf überzeugt. Seine letzte Geste ist daher nicht als ein Akt der Verzweiflung misszuverstehen, sondern als ein Versuch, für die kommende Generation an idealistischen Europäern eine Fackel zu entzünden und das drohende Dunkel der Zukunft ein Stück weit zu erhellen. Wenn wir uns heute an Dominique Venner erinnern, dann sollten wir uns auf den Schock der Geschichte, die kommende Konvergenz der Krisen und die daraus erwachsenden Herausforderungen und Chancen besinnen. Wir sollten dabei nicht verzweifeln, sondern erkennen, dass die Geschichte Europas und seiner Völker noch lange nicht vorbei ist. Es liegt an uns, in den kommenden Jahrzehnten das Schicksal der zukünftigen Generationen zu schmieden.
„Leben heißt kämpfen gegen das, was mich verneint.“ – Dominique Venner