Die Entmündigung des Bürgers als Spielshow

Wer fremdschamaffin ist, für den ist das neueste Spielshow-Format der ARD eine echte Qual. „Ist die AfD eigentlich ein Problem für die Demokratie?“ So lautet der Titel der neuesten Folge. AfD-Vertreter sind zu Recht empört. – Ein Kommentar von Johannes Konstantin Poensgen

Das mit Abstand Unangenehmste ist die gestenhafte Versicherung des demokratischen Meinungsaustauschs. Als hätte man den Inhalt des Sozialkundeunterrichts in der 9. Klasse zu einem Rosenkranzgebet umfunktioniert. Ich habe das Wort „Argument“ in den letzten fünf Jahren nicht so oft gehört wie von den Moderatoren in dieser einen Spielshow.

Die Moderatoren mögen vielleicht tatsächlich vom Segensreichtum des besten Deutschlands aller Zeiten überzeugt sein – solche Verblendung gestehe ich ihnen ja zu. Eines aber garantiere ich Ihnen: Niemand, der hauptberuflich mit Medien zu tun hat, glaubt an den demokratischen Bürgerdiskurs. Niemand.

Das schlimmste ist nicht die Einseitigkeit

Die ganze Einseitigkeit, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk unverhohlen zu einer Wahlwerbemaschine umfunktioniert wird. Dass sie das „Potsdam-Geheimtreffen“ wieder hervorkramen, aber nach einigen verlorenen Prozessen endlich gelernt haben, schwammig genug zu formulieren. Selbst die Tatsache, dass in diesem Schmierenstück ein beruflicher Komparse namens Micha Schleiermacher den durch die Argumente von der Gefährlichkeit der AfD Überzeugten mimte – all das verblasst hinter dem bloßen Konzept dieser Spielshow.

Und ja, es ist eine Spielshow. Es ist kein Bürgerdialog. Es ist keine Debatte, noch nicht einmal eine schlechte. Bei „Die 100“ stehen einhundert Menschen, die zumindest der Theorie nach die gesamte Gesellschaft repräsentieren sollen in einer Halle. Der Boden ist mit Längsstreifen markiert. Ihre Meinungen geben diese Bürger nun wieder, indem sie sich in eine dieser Markierungen stellen, wie bei der Kindershow „1, 2 oder 3“, die sehr eindeutig für dieses Format Pate gestanden hat. Auf den beiden Seiten stehen assistierende Moderatoren, die jeweils ein Argument für ihre Position vorbringen. Dann bewegen sich alle gleichzeitig. Jeder geht auf den Markierungsstreifen, der seine Nähe oder Ferne zu den beiden Positionen nach dem jeweils letzten Argument darstellen soll. Dazwischen befragt der Hauptmoderator einzelne Teilnehmer nach dem Grund für ihre Meinung. So geht das ein paar Runden.

Lassen wir einmal alles beiseite, was in puncto Manipulation oder Parteinahme gegen eine Sendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen vorzubringen wäre, die mit dem Titel beginnt: „Ist die AfD eigentlich ein Problem für die Demokratie?“ Lassen wir einmal beiseite, dass das kein Privatmedium ist, sondern dass alle Bürger, auch die AfD-Wähler, diesen Rundfunk jedes Jahr mit fast zehn Milliarden Euro Zwangsgebühren alimentieren müssen. Übersehen wir selbst, dass die beiden kontroversen Positionen in dieser letzten Sendung waren: Ja, die AfD ist gefährlich für die Demokratie, und: Nein, die AfD ist zwar die Partei des Bösen, aber unsere Demokratie ist so stark, die hält das aus.

Nehmen wir einfach einmal an, dass diese Show tatsächlich so funktionieren würde, wie sie sich nach außen präsentiert. Was wäre das? Der Anspruch, mit dem die neue Show präsentiert wird, ist der einer höheren Diskursmoral, als sie in herkömmlichen Talkshows üblich ist. „Ich glaube, was oft passiert, ist, dass man sofort auf ein Argument reagiert und sich das dann überlagert, und dann am Schluss brüllen alle, und es heißt: ‚Da, lass mich doch auch mal ausreden‘, und so. Hier geht es darum, die einzelnen Positionen zu präsentieren, auch mal eine gegenteilige Meinung oder Argumentation auszuhalten.“ So präsentiert der Hauptmoderator Ingo Zamperoni das neue Format.

Die Talkshow mag alle bekannten Schwächen haben. Dass man einander ausreden lässt, dass jede Seite Zeit hat, ihre Position auch einmal länger zu präsentieren, ist bei jeder ordentlichen Podiumsdiskussion üblich. Die Talkshow mag alle bekannten Schwächen haben, aber selbst die schlechteste Talkshow ist immer noch ein Dialog. „Die 100“ ist von seiner Grundkonzeption her der visualisierte Herdentrieb.

Die Bürger als Herde

Als Herde werden die Bürger über das Feld getrieben und sehen dabei jederzeit, wo die anderen stehen. Und wohin die Mehrheit sich gerade bewegt. Dann greift der Moderator einen heraus, und dieser Mensch, der anders als die meisten Talkshowgäste keine Schulung oder Erfahrung darin hat, vor der Öffentlichkeit zu reden, muss nun vor laufender Kamera seine Position rechtfertigen. Jeder, der auch nur mal in der Schule ein Impulsreferat halten musste, weiß, dass das nicht gut geht. Wer häufiger vor Publikum redet, weiß, welch gewaltigen Unterschied da die Übung macht. Irgendeinen Standpunkt differenziert vor Publikum vorzutragen. Wenn ein normaler Bürger tatsächlich gerade über eine neue Sichtweise nachdenkt und sich vielleicht erst vorläufig auf irgendeine Position gestellt hat, wie soll er da eine pressereife Stellungnahme hernehmen?

Und dass das nicht gut geht, das ist der Sinn dieses Formats! Das Konzept ist darauf ausgelegt, die Teilnehmer zu einer Herde zu machen, die nicht miteinander diskutiert. Dafür sind die fünf oder sechs in den meisten Talkshows schon zu viele. Was diese 100 machen, ist das gegenseitige Abprüfen der allgemeinen Stimmung, und zwar unter der Kuratel der Moderatoren.

Denn während die Teilnehmer auf der Bühne stehen, werden sie von den Hilfsmoderatoren nicht bloß mit Argumenten, sondern vor allem mit der gesamten Flut an Sinneseindrücken bombardiert, die zum Fernsehshowgeschäft dazugehört. Da stellt der eine Hilfsmoderator, vom Scheinwerferlicht begleitet, einen Koffer auf die Bühne, der die Angst aller Ausgegrenzten vor der AfD repräsentiert. Da baut die andere Hilfsmoderatorin aus riesigen Legosteinen ein Haus auf der Bühne, das unsere stabile Demokratie repräsentiert. Thomas Gottschalk hätte sich gefragt, ob das nicht zu infantil ist, aber hier geht es ja auch nicht um „Wetten, dass..?“, sondern um die Beteiligung des Bürgers an der demokratischen Willensbildung.

Ein Symbol der Idealdemokratie der Medienmacher

Und diese wird hier symbolisiert. Auf einer Showbühne haben die Macher des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die demokratische Willensbildung aufgeführt, so wie sie sie sich vorstellen und wünschen: eine irritierte Herde, die unter den Peitschenhieben der Medienmacher hierhin oder dorthin läuft. Wird aber ein Teilnehmer angesprochen, so hat sich der Bürger dafür individuell zu rechtfertigen. Das Letzte ist wichtig. Denn so kann ihm, dem entmündigten Souverän, doch noch die Verantwortung zugeschoben werden.

Die Macher der Show, diejenigen, die den ganzen Verlauf vorausgeplant haben (wo kommen denn der Koffer und das Legohaus her?), schlüpfen in neutrale Rollen: Sie haben ja nur die Argumente vorgebracht, und nun haben die Bürger sich entschieden. Es ist der Alptraum der Kartelldemokratie als Bühnenstück im Fernsehen.

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