21. Oktober 2024. Heute vor 80 Jahren wurde das Dorf Nemmersdorf, in Ostpreußen 40 Kilometer von der Grenze entfernt, unerwartet von sowjetischen Panzerformationen der elften Gardearmee besetzt. Als deutsche Truppen zwei Tage später das Dorf zurückerobert hatten, fanden sie die unvorstellbar zugerichteten Dorfbewohner und deutsche Flüchtlinge vor: Erschossene alte Männer, geschändete Frauen und erschlagene Kinder. Das Leid der Opfer wurde besonders durch eine junge Frau verkörpert, die sich mutig zur Wehr gesetzt hatte, nur um mit Mauerhaken an ein Scheunentor genagelt zu werden. Kurz nach der Rückeroberung von Nemmersdorf dokumentierten Kriegsberichter der SS-Standarte „Kurt Eggers“, sowie die geheime Feldpolizei aus Tilsit die aufgereihten Toten auf dem Acker. Ziel war es, neben einer Identifizierung der Opfer nun auch kriminaltechnische Fotografien zu erstellen. Für die forensische Beweissicherung wurden Kleidungsstücke hochgehoben, um blutende Geschlechtsteile und Schusswunden zu dokumentieren. Danach legte man den Frauen aus Pietätsgründen wieder die Decken oder Kissen vor die Beine und den Intimbereich. Eine internationale Ärztekommission erstellte Opferlisten mit den Todesumständen und deutsche Offiziere sammelten Augenzeugenberichte ihrer Soldaten. Dem „Völkischen Beobacher“ vom 28. Oktober 1944 zufolge fand man zunächst 61 Mordopfer. Der Bericht zählt zunächst die 26 Opfer im Ort Nemmersdorf selbst auf. Hinzu kommen die 13 Toten von Gut Teichhof, die 7 Toten von Tutteln und die 15 Toten von Alt-Wusterwitz; also zusammen 61 Opfer.
Die Wehrmachtuntersuchungsstelle (WUSt) archivierte dieses Beweismaterial für einen geplanten Nemmersdorf-Prozess gegen die schuldigen Rotarmisten. Doch das Kriegsende im Mai 1945 machte diesen Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. In der Nachkriegszeit der 1960er Jahre fand die von den Landsmannschaften geforderte „Zentralstelle zur Verfolgung von Vertreibungsverbrechen“ schließlich keine Mehrheit im Bundestag. Stattdessen floss das Geld in die bereits begonnene „Dokumentation der Vertreibung“ von Theodor Schieder. Nur im 1. Band über die Vertreibung „östlich der Oder-Neiße“ von 1952 finden sich Eingangs einige Berichte über Nemmersdorf. Die darin enthaltenden Übertreibungen des Volkssturmmannes Karl Potreks, der die Anzahl der gekreuzigten Frau vervierfachte, nährte den Boden für spätere Spekulationen einer „Inszenierung“ der Ereignisse von Nemmersdorf. Mit seinem Großprojekt, einer differenzierten Darstellung der Arbeitsweise der WUSt, schuf Alfred de Zayas 1979 die Grundlagen für eine Aufarbeitung im „Fall Nemmersdorf“: Der renommierte Völkerrechtler legte geschickt britische, belgische und deutsche Berichte zu einem ersten Gesamtbild der Ereignisse zusammen, die deutlich machten, dass die Sowjets in Nemmersdorf an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Doch Ende der 1990er Jahre erfolgte wieder ein Rückschritt hin zur sowjetischen Geschichtsklitterung. Mit seinem Buch „Nemmersdorf, Oktober 1944“ versuchte der ehemalige DDR-Dozent (!) Bernhard Fisch mit weiteren „Augenzeugen“, aus seinem SED-Kreis, die Rote Armee zu entlasten und die Opfer herunterzurechnen. In weiteren Publikationen verließ Bernhard Fisch immer mehr den Boden der Sachlichkeit und verirrte sich in der Verschwörungstheorie des sowjetischen Dementis von 1944, nachdem es SS-Leute gewesen wären, welche die toten Zivilisten verstümmelt und entsprechend für die Presse hergerichtet hätten. Tatsächlich war deren Aufenthalt aber einem völlig gewöhnlichen Protokoll der WUSt geschuldet, dass bei jedem sowjetischen Kriegsverbrechen die geheime Feldpolizei und die örtlichen NSDAP-Mitglieder als Zeugen zum Tatort geschickt werden, um die örtlichen Bewohner über die sowjetischen Verbrechen aufzuklären. Ebenso zeugen die im Bildarchiv aufbewahrten Fotografien des Bildberichters „Keiner“ davon, dass bereits vor Eintreffen der Untersuchungskommission einige Frauenleichen mit herunterge-zogenen Röcken „in situ“, also unverändert am Ort des Geschehens, aufgefunden wurden.
Wenn es Bernhard Fisch darum ging, dass Narrativ der „Goebbels-Inszenierung“ von Nemmersdorf zu verankern, so hatte er damit schließlich Erfolg, als 2001 das ZDF den 5-Teiler, „Die große Flucht“ ausstrahlte. Darin und im gleichnamigen Buch zur Sendung interpretierte Guido Knopp die Ereignisse von Nemmersdorf so, dass Goebbels Darstellung von Nemmersdorf „eine Verzerrung der Fakten und eine schamlose Inszenierung der Geschehnisse“ wäre. Aufgrund der wenigen erhaltenen Porträtfotos der Toten gäbe es nach Knopp nur 13 (!) Opfer von Nemmersdorf. Um die Glaubwürdigkeit von Herrn Fisch und Knopp infrage zu stellen, veröffentliche Karl Höffkes 2002 die Dokumentation „Nemmersdorf 1944. Die Wahrheit über ein sowjetisches Kriegsverbrechen.“ Darin kommen einige Soldaten und Offiziere zu Wort, die als einer der Ersten das wieder befreite Nemmersdorf betraten. Hier blieb es bei einer chronologischen Berichterstattung, ohne dass die Aussagen der Zeugen auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft wurden. So vermengten manchen Zeitzeugen die Ereignisse der Schlacht von Goldap mit Nemmersdorf und sahen vermeintliche Tote, die aber tatsächlich in der Nachkriegszeit noch in der Landmannschaft aktiv waren. Als ich 2016 für meinen Blog „Ostpreußen 1945“ (https://ostpreussen1945.wordpress.com/), Zeitzeugen zu befragen und original Erbstücke und Briefe der Akteure von Nemmersdorf aus Deutschland, den USA und aus Russland zu erwerben, erhob ich den Anspruch einer authentischen Aufarbeitung des Massakers von Nemmersdorf. Diese sollte sowohl eine vollständige Namensliste der deutschen Opfer-, als auch der sowjetischen Täter von Nemmersdorf mit genauen Orts- und Zeitangaben der Ereignisse beinhalten. Meine jahrelange Recherche im Bielefelder Stadtarchiv, bei der Ostdokumentation in Bayreuth, im Archiv des Auswärtigen Amtes, sowie im Militärarchiv in Freiburg ergab eine Opferliste, die 129 Personen umfasst: 57 Bewohner und Landarbeiter der Gemeinde Nemmersdorf, sowie 72 deutsche Flüchtlinge.
Der Nemmersdorf-Mythos einer „Goebbelschen Inszenierung“ etablierte sich in der Zeitgeschichte so weit, dass 2017 in dem Konzept des „Dokumentationszentrum gegen Vertreibungen“ die Pressefotos von Nemmersdorf als „propagandistische Nutzung von Verbrechen der Roten Armee durch die NS-Propaganda“ verklärt wurden. Um das Leid der deutschen Vertriebenen wieder in den angemessenen Fokus der Erinnerungskultur zu setzen, veröffentlichte der Hydra-Verlag im März 2023 meinen Comic „Oktober 44: Die Befreiung von Nemmersdorf“ mit dem Anspruch einer historisch genauen Rekonstruktion der Ereignisse im Oktober 1944.
Während staatliche Vertreter aus Frankreich und Tschechien jedes Jahr in Oradour-sur-Glane und Lidice ihre Kränze an die über ihre Landesgrenzen hinaus bekannten Mahnmale zerstörter Dörfer legen, fehlt es in der BRD der Gegenwart immer noch an einer würdigen Gedenkstätte an das Massaker von Nemmersdorf. Nur die letzten Zeugen der Nemmersdorfer Dorfgemeinschaft legten 1992 ein Holzkreuz an dem Acker nieder, wo die Toten von Nemmersdorf 1944 aufgereiht wurden. Obwohl der Runde Jahrestag des 21. Oktober 1944 für jeden anderen Staat der Erde ein Grund für eine größere Zeremonie des öffentlichen Erinnerns wäre, verkommt der 80-jährige Gedenktag an Nemmersdorf in der BRD zu einem einmaligen Negativ-Rekord der Leugnung und Verdrängung. Noch nie zuvor hat ein Staat seine eigenen Opfer über einen so langen Zeitraum von über drei Menschengenerationen auf das hartnäckigste negiert und verachtet, wie es die Vertreter der BRD heute tun. Ich schäme mich zutiefst für diese Historikerzunft!
In den gesamten 75-Jahren des Bestehens der BRD wurde von offizieller staatlicher Stelle zu keinem Zeitpunkt eine Aufarbeitung oder der Aufbau einer würdigen Nemmersdorf-Gedenkstätte für 129 Frauen, Kinder und Greise, die den Sowjets zum Opfer fielen, angestrebt. Da eine ehrliche Trauerkultur um die eigenen Opfer weiterhin nur durch privates Engagement aufrechterhalten werden kann, errichteten schließlich Aktivisten aus dem Ruhrgebiet im Mai 2024 eine Gedenktafel an das Massaker von Nemmersdorf auf dem Mahnmal des Sennefriedhofs in Bielefeld (Hier geht es zum Video der Aktion: https://www.youtube.com/watch?v=HNaFZjTFKbg)
Mit der anstehenden Doktorarbeit „Opfer, Täter und Symbolik der Kreuzigung: Eine Untersuchung des Massakers von Nemmersdorf“ möchte ich im nächsten Jahr den Forschungsstand über die Ursachen von Kriegsverbrechen wesentlich erweitern und für eine wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung der Ereignisse von Nemmersdorf sorgen. Ich hoffe damit die alliierten Kriegsverbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung der Vergessenheit zu entziehen!
Markus Pruss