Das Grenzprodukt des Boomers

Soll man eher Ältere oder Jüngere ansprechen? In einer jüngsten Strategiedebatte mit Martin Sellner, Marius Keipp und dem Schattenmacher fiel mir wieder einmal auf, dass diese Fragen immer in einem falschen Absoluten stecken bleiben.

Die Frage: Soll man eher Ältere oder Jüngere ansprechen? Dass die Antwort in irgendeiner Weise „sowohl als auch“ lauten muss, leuchtet jedem intuitiv ein. Die Differenzierungen, die dann versucht werden, gehen aber fast immer am Kern einer strategischen Ausrichtung der Ressourcen vorbei. Sie verbleiben bei der Frage des „Wo“ und kommen nicht zum „Wie viele und zu welchem Preis“ durch.
Damit bleibt schon die ganze Frage falsch. Wenn ich nur frage, welche Bevölkerungsgruppen wo gut hineinpassen, dann komme ich natürlich zu der Erkenntnis, dass Boomer in einer Jugendbewegung nichts verloren haben. Aber – dieser Satz ist ziemlich genau so gefallen: Bei Demos oder Unterschriftenkampagnen und vor allem Wahlen, da wolle man doch alle!

Das ist falsch.

Aus einem einfachen Grund: Jeder kostet. Nicht in dem Sinne, dass man die Leute für alles bezahlen müsste. Wir sind noch nicht so weit herabgesunken, dass wir Demogeld zahlen. Bei uns bestreiten die allermeisten sogar ihre Anreise aus eigenen Mitteln. Aber trotzdem kostet jeder in irgendeiner Weise. Auch der begeistertste Mitstreiter muss erst einmal irgendwie angeworben werden. Auch wenn er dann selbst aktiv ist, wird er in irgendeiner Weise Ressourcen der Bewegung verbrauchen, sei es die Zeit eines anderen Aktivisten, die vielleicht sinnvoller hätte genutzt werden können. Auch wenn sie nicht bezahlt werden, sondern ehrenamtlich tätig sind, gleichen Angehörige einer politischen Bewegung darin den Angestellten eines Unternehmens, dass sie nicht nur Ertrag bringen, sondern auch Kosten verursachen.

Und nicht jeder bringt mehr Ertrag, als er kostet.

Das gilt natürlich nicht nur für Boomer. Ich verwende diese Generation hier als Beispiel, aber die Prinzipien gelten für alle Generationen, grundsätzlich für jede Bevölkerungsgruppe, die eine politische Bewegung ansprechen will.
Bis hierher sind wir nicht weiter als dahin gekommen, dass jeder Anwerber eben darüber nachdenken sollte, ob die Person, die er da vor sich hat, mehr Nutzen bringt, als dass sie Ärger verursacht. Persönlichkeiten daraufhin einschätzen zu können, ist eine Fähigkeit, deren Bedeutung für den Aufbau politischer Gruppen oft unterschätzt wird. Aber darum geht es hier ja nicht, sondern um die Frage, welche Altersgruppen angesprochen werden sollen.

Oder um die Frage hier schon so richtig zu stellen, wie sie gestellt werden muss: Welcher Aufwand soll auf welche Altersgruppe oder, was das anbelangt, auf irgendeine Bevölkerungsgruppe angewandt werden?

Dabei sollte man eine einfache Heuristik im Kopf haben, die auf den Gedanken des österreichischen Ökonomen Eugen Böhm Ritter von Bawerk (1851 bis 1914) beruht. In einer seiner bis heute meistgelesenen Schriften, Macht oder ökonomisches Gesetz, befasste Böhm von Bawerk sich mit der Frage, wie weit der Lohn der Arbeiter durch ökonomische Gesetze bestimmt wird und wie weit er durch politische Macht beeinflusst werden kann. Diese Schrift hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, denn immer noch versuchen alle möglichen politischen Akteure, alle möglichen Preise par ordre du Mufti zu bestimmen – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Zu seiner Zeit gab es neben den Marxisten, die die Lohnfrage als eine rein politische Machtfrage ansahen, eine starke wirtschaftswissenschaftliche Strömung, welche annahm, dass der Lohn durch mathematisches Gesetz dem Grenznutzen des letzten Arbeiters entsprechen müsse, den ein Betrieb noch einzustellen bereit ist, bevor er ausgelastet ist.

Anstatt sich in diesen Absoluta zu verheddern, sah sich Böhm von Bawerk an, was eigentlich passiert, wenn durch politische Macht der Lohn verändert wird. Er nahm dafür den Fall eines Unternehmens, das das einzige Unternehmen der Branche ist und somit den Lohn in der gesamten Branche autoritär festlegen kann, weil keine Konkurrenz besteht. Dann haben die Arbeiter natürlich trotzdem die Möglichkeit zu gehen, wenn ihnen der Lohn zu niedrig ist.

Böhm von Bawerk kam zu der Erkenntnis, dass hier die Tatsache entscheidend ist, dass nicht alle Arbeiter gleich sind. Die Arbeiter haben unterschiedliche Alternativen. Auf heutige Verhältnisse übertragen könnte der eine vielleicht nur Bürgergeld bekommen, der andere hätte einen Job für 10,50 € die Stunde in Aussicht, der dritte für 12,00 €, ein anderer für 14 €.

Das heißt, wenn der Arbeitgeber den Lohn auf 11 € senkt, dann kann er nur diejenigen halten, die kein besseres Angebot woanders bekommen. Er streicht vom einzelnen Arbeiter einen höheren Anteil ein, aber er hat insgesamt weniger Personal zur Verfügung. Das heißt: Im Eigeninteresse des Arbeitgebers liegt es nicht, den Lohn so weit wie möglich zu drücken, sondern ihn dort anzusetzen, wo sein eigener Gewinn am größten ist. Dieser Gewinn besteht aus der Anzahl der Arbeiter mal dem Anteil, den der Arbeitgeber vom Geldwert der Arbeit jedes einzelnen Arbeiters einbehält.

Für politische Bewegungen gilt ein analoges Gesetz. Wenn eine Kampagne, eine Werbeaktion oder irgendetwas geplant wird, das eine bestimmte Bevölkerungsgruppe dazu animieren soll, sich für die politische Bewegung einzusetzen, dann hat man es bei dieser Bevölkerungsgruppe niemals mit einer Menge aus identischen Bauklötzen zu tun, sondern immer mit Menschen, die sich voneinander unterscheiden. Um den einen zu erreichen, muss weniger, um den anderen zu erreichen, muss mehr Aufwand betrieben werden. Ab irgendeinem Punkt lohnt es sich dann überhaupt nicht mehr, weil der nächste, den man erreichen könnte, mehr Ärger macht, als er wert ist. Jeder aktivierte Mensch aus der entsprechenden Bevölkerungsgruppe erwirtschaftet (hoffentlich) einen politischen Gewinn – also das, was er selbst in die Bewegung hineinbringt an eigener Zeit, Energie oder auch Geld, abzüglich der Kosten, die dafür notwendig sind, ihn erst einmal anzusprechen und dann bei der Stange zu halten. Der Durchschnitt dieses Gewinns mal der Anzahl der aktivierten Personen ist der Ertrag, den eine politische Bewegung aus ihrer Werbung unter einer bestimmten Bevölkerungsgruppe erzielt. Der Maximalpunkt dieses Ertrags dürfte in den seltensten Fällen dann erreicht werden, wenn man sich bemüht, „alle“ mitzunehmen. Und damit haben wir noch nicht das Problem der Opportunitätskosten angesprochen, also dass Ressourcen, die in eine Kampagne für die eine Zielgruppe einfließen, bei einer Kampagne für die andere Zielgruppe fehlen.

Politik ist hier, wie übrigens so oft, eine komplexere Form von Ökonomie oder umgekehrt: Ökonomie ist eine sehr eingeschränkte Form von Politik. In der Politik ist immer alles komplizierter als in der Wirtschaft. So auch hier. Deshalb zum Schluss noch einige Punkte, auf die eine politische Organisation im Unterschied zu einem Wirtschaftsunternehmen achten muss:

Erstens: In der Wirtschaft ist es in der Regel so, dass die wertvollsten Mitarbeiter auch die größten Kosten verursachen. Die besten Mitarbeiter muss man am höchsten bezahlen, weil sie die besten Angebote von der Konkurrenz bekommen. Wenn Personen nicht bezahlt werden, sondern aus Idealismus arbeiten, dann ist das nicht immer, aber doch in den allermeisten Fällen umgekehrt. Die besten Leute sind am wenigsten anstrengend und bespaßungsbedürftig, während die nutzlosesten in aller Regel am meisten Zeit und Energie fressen. Bei bezahlten Mitarbeitern ist es in der Politik so ein Mittelding.

Zweitens: Aus einem ähnlichen Grund, weil Idealismus oder ein bestimmtes Zusammengehörigkeitsgefühl die Mitstreiter animiert, nicht Geld, gibt es viele Ressourcen, die nicht einfach auf andere Zwecke oder andere Zielgruppen verwendet werden können. Mein Lieblingsbeispiel dafür sind die Burschenschaften. Seit ich aktiv bin, höre ich die Klagen darüber, was man nicht alles erreichen könnte, wenn all das Geld und die Energie in etwas Sinnvolleres als diese studentischen Saufvereine fließen würde. Das ist ja richtig, nur sollte jedem klar sein, dass dieses Geld und diese Energie ohne die Burschenschaften nirgendwo hinfließen würden.

Drittens: Im Gegensatz zu Unternehmen, bei denen jemand einfach für seinen Job bezahlt wird, tritt ein politisch aktiv gewordener Mensch nie einfach nur einer Bewegung bei, um deren Ziele zu unterstützen. Er selbst verändert auch diese Ziele. Jeder, selbst der glühendste Anhänger der Parteilinie, bringt seine eigenen Vorstellungen und Werte mit. Das bedeutet, jeder Mitstreiter kostet auch insofern, als er das Wesen der politischen Bewegung verändert. Diese Kosten, auch wenn sie kaum zu beziffern sind, müssen ebenfalls eingerechnet werden, und sie sind bei weitem nicht bei allen gleich.

Dies sind die grundlegenden Heuristiken, auf deren Basis man sich überhaupt erst einmal planvoll darüber Gedanken machen kann, wie viel Kraft in die Anwerbung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen gesteckt werden soll.

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