Ende 2023 veröffentlichte die britische Professorin Mary Fulbrook einen von den Mainstream-Medien viel beachteten Text zu den deutschen Vertriebenen. Ihre steile These: „Nur wenige vertriebene Familien waren völlig unschuldig“. Der deutsche Historiker Markus Pruss widerspricht dem vehement und hat zu acht Fulbrook-Thesen jeweils eine Gegenthese formuliert.
Ein Beitrag von Markus Pruss
Ende 2023 veröffentlichte die britische Professorin Mary Fulbrook vom „University College London“ ein von den Mainstream-Medien viel beachteten Essay über die deutschen Vertriebenen. Es trägt den Übertitel „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“ und es hat den Untertitel „Die Vertreibung von etwa 14 Millionen Deutschen aus den Ostgebieten hätte es ohne die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht gegeben. Doch das wird gern verdrängt“. Ich habe mich mit diesem „Schuld und-Sühne“-Essay von Mary Fulbrook auseinandergesetzt und zu acht Fulbrook-Thesen jeweils eine Gegenthese formuliert. In dieser Zusammenfassung werden die zwei Hauptthesen vorgestellt – zum vollständigen Text geht es hier.
1. Fulbrook-These: Aufgrund vorheriger Vertreibungen durch das NS-Regime und infolge des „Heim ins Reich“-Programms, sind deutsche Vertriebene keine Opfer, sondern eine Art „Tätervolk“, das kein Mitleid verdient.
Gegenthese: Deutsche Heimatvertriebene sind Opfer und keine Täter.
Das Schlagwort „Tätervolk“ besagt, dass eine Ethnie moralisch als auch genetisch für die Verbrechen ihrer Vorfahren kollektiv schuldig wäre. Die Kollektivschuld aller deutschen Menschen wurde bereits in den Urteilen der Nürnberger Prozesse zurückgewiesen. Nach den „50 Thesen zur Vertreibung der Deutschen“ des Völkerrechtlers Alfred M. de Zayas, gelte das Völkerrecht gleichermaßen für alle: „Darum sind die Staaten erga omnes verpflichtet, die Normen des Völkerrechts konsequent anzuwenden, ohne willkürliche Ausnahmen. Ein Staat gefährdet die Rechtssicherheit und stellt die Glaubwürdigkeit der völkerrechtlichen Rechtsordnung infrage, wenn er nach unterschiedlichen Maßstäben handelt. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschheit müssen stets verurteilt werden, unabhängig von der Nationalität der Opfer.“ Der Begriff „Tätervolk“ dürfe daher keine Verwendung mehr im Kontext der Vertreibung finden, da diese rassistische und pauschalisierende Schuldzuweisung gegen ein ganzes Volk eine Verletzung der Menschenrechte bedeute.
2. Fulbrook-These: Die Deutschen aus den Ostgebieten sind selbst schuld an ihrer gewaltsamen Vertreibung, weil sie in diesen Gebieten als Unterdrücker auftraten.
Gegenthese: Die nationalsozialistische Politik und damit verbundene Verbrechen waren nur Anlass und nicht die Ursache der Vertreibung.
Im Eckpunktepapier der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung (SVFF)“ wird die Ursache der Vertreibung der Deutschen in der Folge der nationalsozialistischen Politik betrachtet. Nach den „50 Thesen zur Vertreibung der Deutschen“ des Völkerrechtlers Alfred M. de Zayas dürfe die Vertreibung „nicht als eine Frage von Schuld und Sühne“ betrachtet werden. „Zutreffend muss vielmehr gesagt werden, dass die nationalsozialistische Politik und damit verbundene Verbrechen nur Anlass für die Vertreibung waren, die eigentlichen Beweggründe jedoch anderer Art waren.“ Die Situation der totalen Niederlage der Deutschen im Jahr 1945 ermöglichte es, die seit 1918 gehegten Vertreibungspläne des polnischen und tschechischen Staates umzusetzen. Die Ursache der Vertreibung lag daher in der freien Entscheidung der Vertreiberstaaten, sich die Vertreibung zum Ziel zu machen. Nach dem allgemein gültigen Grundsatz, dass vorangegangenes Unrecht nicht mit neuem Unrechte gerechtfertigt werden kann, rechtfertigt auch das nationalsozialistische Unrecht der Besatzung nicht die völkerrechtswidrige Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten. „Für das Unrecht ist derjenige, der es begeht, jeweils alleine verantwortlich; er kann diese Verantwortung nicht mit dem Unrecht anderer von sich abwälzen.“
Perfide Täter-Opfer-Umkehr
Wer also den Opfern von Flucht und Vertreibung vorschreibt, sie wären selber schuld daran, dass sie Aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, verfolgt, vertrieben und einem Völkermord ausgesetzt wurden, betreibt eine gefährliche „Opfer-Beschuldigung“ (victim blaming). Mit der Methode einer „Täter-Opfer-Umkehr“ wird die Schuld und Verantwortung der Vertreiberstaaten, sowie der einzelnen Täter in den Reihen der Rotarmisten und Partisanen, auf die Opfer von Vertreibung und Vergewaltigung abgewälzt. Man kann den Essay von Mary Fulbrook also als eine Art „Psy-Ops“ verstehen, mit denen die Vertriebenen und ihre Nachkommen eingeschüchtert werden sollen, um die fehlende Strafverfolgung sowjetischer Vertreibungsverbrechen zu akzeptieren und die Aufarbeitung der „Weißen Flecken“ der „wilden Vertreibungen“ in den Vertreiberstaaten zu verhindern. Die Täter der Vertreibungen werden damit geschützt und das Leid der Opfer der Vertreibung wird mit Scham und Zweifel verstärkt.
Hierarchie der Opfer
Mary Fulbrook erschafft damit eine Klassifizierung der Opfer und führte zu einer Opferkonkurrenz. Demnach wären die NS-Opfer erster Klasse, an dessen Schicksal ständig erinnert werden müsse und die Vertriebenen wären Opfer zweiter Klasse, deren Schicksal ausgegrenzt, relativiert oder legitimiert werden könne. Das Vorstandmitglied der Österreichischen Landsmannschaft, Helmut Müller, mahnte: „Auch ein erschlagenes deutsches Kind hat genauso gelitten, wie ein jüdisches. Der Mord an den Kindern einer Seite darf daher nie durch Mord an den Kindern der anderen Seite gesühnt werden. Wer dies tut oder entschuldigt, begibt sich auf ein Niveau, das nicht mehr menschlich ist.“ Die Verbrechen des NS-Regimes dürfen nicht dazu dienen, begangenes Unrecht an den Vertriebenen aus den Ostgebieten zu relativieren. Die Verharmlosung des Völkermordes an den Deutschen Vertriebenen führt zu einer unmenschlichen Verhöhnung gegenüber den Opfern eines Genozids.
Strafe und Rache?
Auch lassen sich die massenhaften Vertreibungen und Schändungen in den deutschen Ostgebieten nicht alleine mit „Rache“ für vorangegangene Verbrechen der Deutschen erklären. Bei diesen wochenlangen Exzessen wurde nicht nach vorheriger Schuld oder Unschuld geprüft, sondern nur auf den Wohlstand der Opfer geachtet, um sich selber zu bereichern. Somit lässt sich die Vertreibung der Deutschen auch nur zum Teil mit Rache bzw. Vergeltung für vorherige Unterdrückungen in den Deutschen Ostgebieten und besetzten Ländern erklären. Zum einem spielten persönliche Macht- bzw. Besitzstreben von Zivilpersonen, die sich an der Vertreibung beteiligten eine Rolle, andererseits lagen aber auch die Bestrebungen, die ethnischen Minderheiten für einen „homogenen“ Nationalstaat zu beseitigen im politischen Kalkül der Vertreiberstaaten. Alfred M. de Zayas betone: „Eine Strafe, die von der Berücksichtigung persönlicher Schuld und der Verhältnismäßigkeit der Mittel absieht, ist juristisch und moralisch nicht vertretbar.„
Gegenthese: Die Vertreibung der Deutschen muss geächtet und in einem Unrechtszusammenhang aufgezeigt werden.
Die Flucht und Vertreibung der Deutschen lässt sich nicht alleine mit dem vom nationalsozialistischen Deutschland ausgegangenen Eroberungs- und Vernichtungskrieg erklären, sondern steht im Kontext der panslawistischen Eroberungs- und Nationalitätenkonflikte. Die Vertreiberstaaten strebten seit dem Ersten Weltkrieg nach ethnisch reinen Nationalstaaten. Dabei etablierte sich die Umsiedlungspraxis als Instrument der europäischen Politik. Da den Vertreibungen der Deutschen seitens der Vertreiberstaaten auch nicht die persönliche Schuld der Opfer, sondern alleine die ethnische Zugehörigkeit zugrunde lag, bedarf es vielmehr einer musealen Ausrichtung in einem vielseitigen sowie wechselseitigen Unrechtszusammenhang der in diesem Geschehen verwickelten Staaten.
Einseitige Geschichtsschreibung beenden
Nur eine wissenschaftliche Aufarbeitung und eine Vergangenheitsbewältigung der „weißen Flecken“ der Nachkriegsgeschichte in den sowjetischen besetzen Ostgebieten seitens der Polen und Tschechen bzw. eine Enttabuisierung des von Alliiertem begangenen Unrechtes, wird eine einseitige Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Vertreiberstaaten verhindert.
Markus Pruss ist ausgebildeter Historiker aus Münster mit den Schwerpunkten osteuropäische Geschichte, sowie Flucht und Vertreibung der Deutschen.