„Aus versehen unterschrieben“: Polens Premierminister Tusk will Richterernennung zurückziehen

Seit Dezember 2023 ist Donald Tusk wieder Ministerpräsident von Polen. Mit dem Rückhalt der Europäischen Union versucht er seitdem, die Erbschaft der konservativen Vorgängerregierung abzuwickeln. Mit allen Mitteln. Jetzt versucht er, die Ernennung eines Richters rückgängig zu machen, die er selbst unterzeichnet hat.

Schuld ist selbstverständlich ein Mitarbeiter. Ein Mitarbeiter hat nicht aufgepasst. Ein Mitarbeiter hat die Ernennungsurkunde des Richters Krzysztof Andrzej Wesołowski nicht ordentlich markiert. Deshalb habe Polens Premierminister sie einfach unterschrieben, so wie er jeden Tag routinemäßig Dokumente abzeichne. Mit dieser Urkunde wurde Wesołowski zum Vorsitzenden einer Richterkommission ernannt, die einen neuen Vorsitzenden der Zivilkammer des Obersten Gerichtshofs (Sąd Najwyższy) ernennen soll.

Im Kampf zwischen Nationalisten und Eurokraten wird der polnische Rechtsstaat zerfleischt

Zum Verfahren: Vorgeschlagen wurde Wesołowski durch den Präsidenten Andrzej Duda. Der Präsident hat in Polen eine etwas stärkere Stellung als der deutsche Bundespräsident. Duda war vor seiner Präsidentschaft Mitglied in der konservativen PiS-Partei, also der Partei der Vorgängerregierung von Donald Tusk, die das Land von 2015 bis zum Dezember 2023 regiert hat. Zu seinen Befugnissen zählt auch, den Vorsitzenden dieser Richterkommission vorzuschlagen. Wenn der amtierende Ministerpräsident gegenzeichnet, ist der Vorsitzende ernannt. Das ist nun vor einigen Wochen geschehen, als Tusk seine Unterschrift unter die Ernennung Wesołowskis setzte. Nun will Tusk diese Unterschrift wieder zurückziehen. Rechtmäßig ist das nicht. Doch in Polen zerfleischt der Kampf zwischen Nationalisten und Eurokraten seit einem Jahrzehnt den Rechtsstaat. Es begann damit, dass Donald Tusk und seine Partei, die Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO), 2014 im letzten Monat ihrer Regierungszeit fünf Verfassungsrichter ernannte, anstatt der drei, die ihnen zugestanden hätten. Die frisch an die Regierung gekommene PiS reagierte damit, dass sie alle fünf Ernennungen rückgängig machte und anstatt zwei nun ihrerseits fünf Richterstellen besetzte.

Justizreformen und Streit mit der EU

Von 2015 an führte die PiS eine Reihe von Justizreformen durch. Doch weil die nationalistische PiS mit der Europäischen Union permanent auf Kriegsfuß stand, nahm diese den Justizstreit in Polen, der innenpolitisch außerordentlich hässlich geführt wurde, zum Anlass für weitreichende Sanktionen gegen das Land. Milliarden an europäischen Geldern wurden zurückgehalten. 2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof Polen deshalb zu einem täglichen Zwangsgeld von einer Million Euro für jeden Tag, an dem Polen sich nicht den europäischen Vorgaben beugte.

„Neo-Richter“

Mit Donald Tusks Art und Weise, nach seiner Amtsübernahme im Jahr 2023 die Erbschaft der acht Jahre PiS abzuräumen, hat man in Brüssel weniger Probleme. Dass Oppositionspolitiker vor laufenden Kameras verhaftet werden, stört die Wächter europäischer Werte offenbar nicht. Stattdessen wurde das Rechtsstaatsverfahren gegen Polen eingestellt, weil die neue Regierung „guten Willen“ gezeigt habe. Doch im Herzstück der Agenda Donald Tusks steht eine weitere, bisher unvorstellbare Eskalation im Kampf um die Justiz: Wesołowski, dessen Ernennung Tusk nun zurücknehmen will, ist das, was Tusk und seine Anhänger in Polen einen „Neo-Richter“ nennen. Damit bezeichnen sie Richter, die nach einer Reform des Landesrats für Gerichtswesen (Krajowa Rada Sądownictwa, KRS) durch die PiS im Jahr 2017 ernannt wurden. Diesen Neo-Richtern sprechen Tusk und seine Anhänger jegliche Legitimität ab!

Die Reform des KRS

Der KRS ist in Polen ein Verfassungsorgan, das theoretisch über die Unabhängigkeit der Justiz wachen soll. Praktisch spielt dieses Gremium vor allem bei der Richterernennung eine wichtige Rolle und befasst sich überhaupt mit Personalfragen im Justizwesen. Der KRS schlägt dem Präsidenten Kandidaten für die Richterernennung vor. Da der Präsident noch andere Aufgaben hat, als sich nur um das Justizwesen zu kümmern, bestimmt der KRS praktisch in den meisten Fällen, wer Richter wird und wer nicht. Eine Mehrheit von 15 der 25 Mitglieder des KRS sind Vertreter der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft, also Richter, welche die Standesorganisationen der Richterschaft vertreten. Bis 2017 wurden diese Posten von der Richterschaft selbst gewählt. Die PiS betrachtete das als ein Problem, weil damit die Richterschaft zu einer abgeschlossenen Kaste wird, die sich letztlich durch Kooptation ersetzt. Deshalb setzte sie ein Gesetz durch, welches diese Richtervertreter durch den Sejm, das polnische Parlament, wählen lässt.

Tusk stellt 2500 Richter infrage

Diese Abhängigkeit vom Parlament kann man kritisieren, in Deutschland gibt es häufig Kritik an der Vergabe von Richterposten nach Parteibuch, aber irgendwie müssen Richterstellen ja vergeben werden. Eine vom Himmel gefallene Unabhängigkeit der Justiz gibt es nun einmal nicht. Nun hätte es der neuen Regierung freigestanden, das Gesetz erneut zu ändern und zum alten Verfahren zurückzukehren. Stattdessen aber bestreiten Tusk und seine Anhänger rückwirkend die Legalität sämtlicher Richterernennungen seit 2017! Etwa 2500 Richter sollen sich einem sogenannten Unabhängigkeitstest unterziehen, oder sie können entlassen werden.

Konservative versuchen sich aus der Justiz zu wehren

In einer Umkehr der Verhältnisse nach 2015, als sich die liberalen und teilweise noch altkommunistischen Richter gegen die neue PiS-Regierung stellten, versuchen nun die Konservativen aus der Justiz heraus Widerstand zu leisten. Aleksander Stępkowski, auch er ein „Neo-Richter“ und der Sprecher des Obersten Gerichts, erklärte, dass das Gericht Tusks Rückzug der Unterschrift als ungültig betrachtet und die Wahlkommission mit Wesołowski als Vorsitzendem zusammentreten und einen neuen Vorsitzenden der Zivilkammer wählen werde.

Polen ist kein Einzelfall! Überall müssen rechte Bewegungen mit einer Justiz umgehen, die in feindlichen Händen ist

Wo immer in der westlichen Welt rechte Bewegungen an die Macht kommen, müssen sie sich mit Institutionen auseinandersetzen, die noch vom liberalen Establishment besetzt sind. Dazu zählen auch die Gerichte. Weit eher als die Ereignisse in Polen dürften dem deutschen Leser die zeitgleiche Welle an Verfahren und Prozessen in Erinnerung geblieben sein, unter der das Establishment in Amerika die Präsidentschaft Trumps begraben hat. Von endlosen Untersuchungsausschüssen über an den Haaren herbeigezogene Zusammenarbeit mit dem russischen Geheimdienst bis hin zu Fällen, in denen irgendwelche Provinzrichter aus Hawaii präsidentielle Exekutivverordnungen für ungültig erklärten, bis der Fall seinen Weg durch die Instanzen genommen hatte.

Die PiS trägt Mitschuld: halblegale Kniffe statt breiter Gegenkultur

Die polnische PiS muss sich aber auch zurechnen lassen, dass sie denkbar schlecht damit umgegangen ist. Anstatt eine breite metapolitische Unterstützung zu gewinnen, ein Vorfeld und eine rechte Gegenkultur aufzubauen, wie das die ungarische Fidesz vorgemacht hat, bediente sie vor allem alte Ressentiments und versuchte, die Richterschaft mit Winkelzügen aufzubrechen, die nicht selten selbst fragwürdig waren. Auf dem Gebiet halblegaler Kniffe sitzt ein Donald Tusk mit der Unterstützung europäischer und globaler Eliten aber am längeren Hebel. Für die AfD, die FPÖ und alle anderen rechten Parteien im aktuellen Aufwind ist die PiS deshalb vor allem ein mahnendes Beispiel, wie man es nicht macht.

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