Haldenwang will in den Bundestag. Doch man kann sich nicht einfach auf die Liste schreiben lassen, erst recht nicht in der CDU. Dass Haldenwang gute Chancen hat, zeigt die steigende Macht des Inlandsgeheimdienstes. Ein Kommentar von Johannes Konstantin Poensgen.
Dass die Bundesrepublik sich zur Machtabsicherung immer stärker auf den als Verfassungsschutz bezeichneten Inlandsgeheimdienst stützt, ist bekannt. Was wir nun erleben, ist die Umkehrung. Dass diese Entwicklung nicht ausbleiben würde, hätte eigentlich klar sein sollen.
Der Geheimdienst ist eine Erfindung der Moderne. Spionage ist zwar so alt wie die Zivilisation selbst, aber das waren die gedungenen Spitzel des Hofmeisters des Fürsten von So-und-so. Ihre Organisation in behördlichen Strukturen begann im 18. Jahrhundert in Frankreich. Die französische Revolution brachte dann mit Joseph Fouché (1759-1820), der sowohl Napoleons als auch den restaurierten Bourbonen als Polizeiminister diente, den ersten Mann hervor, der eine politische Figur ersten Ranges war, weil er die bürokratisch organisierte Spionage unter sich hatte.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhren Geheimdienste dann eine massive Aufwertung und entwickelten sich zu dem Typus Organisation, den wir heute kennen – vor allem durch die beiden Weltkriege. Wer sich je gefragt hat, warum James Bond für den MI6 arbeitet: Der Name steht für Military Intelligence Section 6. Das Inlandsäquivalent ist der MI5, der wahrscheinlich Harry Shukman einen falschen Pass besorgt hat, als dieser im Verlauf des letzten Jahres mehrere rechte Gruppen zu infiltrieren versuchte. Beide sind längst nicht mehr dem Militär unterstellt, aber der Name hat sich gehalten.
Hätte Deutschland im 20. Jahrhundert eine kontinuierliche Geschichte gehabt, würde unser Nachrichtendienst heute übrigens wohl III B heißen. Im Kaiserreich war der Militärgeheimdienst Abteilung B unter dem 3. Oberquartiermeister im Großen Generalstab – ursprünglich mit gerade einmal drei festen militärischen Mitarbeitern. So waren die Anfänge der modernen Geheimdienste. Auch die CIA, der wichtigste zivile Nachrichtendienst der Vereinigten Staaten, entwickelte sich aus dem OSS, dem Nachrichtendienst des Kriegsministeriums zwischen 1942 und 1945.
In dieser Epoche zeigte sich zweierlei: Erstens, dass kein moderner Staat ohne Geheimdienste bestehen kann. Also nicht ohne Staatsorgane, die von ihrer Natur und ihrem Aufgabenbereich her bestenfalls in den Grauzonen der Legalität arbeiten, wenn ihre Tätigkeiten nicht direkt illegal sind. Zweitens, so wichtig die Auslandsspionage auch ist, politisch sensibel ist immer der Inlandsgeheimdienst. Lawrenti Beria in der Sowjetunion, Heinrich Himmler in Deutschland oder J. Edgar Hoover in den Vereinigten Staaten: Die Mitte des 20. Jahrhunderts brachte in den unterschiedlichsten politischen Systemen den Typus des Chefs der Geheimpolizei hervor, dessen Macht darauf beruhte, dass er von allen Amtsträgern des jeweiligen Systems derjenige war, der über die praktischen wie rechtlichen Möglichkeiten verfügte, geheimdienstliche Operationen im eigenen Land ausführen zu lassen – einmal gegen Systemgegner, aber eben auch gegen andere Amtsträger des Systems.
Man sollte nicht glauben, dass dies in Demokratien nicht vorkam. Der bereits erwähnte FBI-Direktor J. Edgar Hoover etwa war berüchtigt für seine Sammlung an Dossiers über das Privat- und Intimleben aller möglichen Personen des öffentlichen Lebens. Er starb weder ohne Grund hochbetagt im Amt, noch ist es zu unwahrscheinlich, dass der ihm zugeschriebene Ausspruch „Mir ist egal, wer unter mir Präsident ist“ authentisch ist.
Obwohl die Bundesrepublik sich mit dem Verfassungsschutz einen in westlichen Demokratien dahingehend einzigartigen Inlandsgeheimdienst leistet, dass der Verfassungsschutz offiziell für die Überwachung der politischen Gesinnung und deren öffentliche Bewertung via „Verfassungsschutzbericht“ zuständig ist, waren Verfassungsschutzpräsidenten eher unbedeutende Figuren in der politischen Arena.
Vor zehn Jahren noch hätte auch der politisch interessierte Bürger meist nicht sagen können, wer gerade das Amt des Bundesverfassungsschutzpräsidenten bekleidet. Das liegt nicht zuletzt daran, dass weder der Bundesverfassungsschutz noch die Landesämter für Verfassungsschutz polizeiliche Befugnisse haben – anders etwa als das amerikanische FBI, das Inlandsgeheimdienst und Bundespolizei zusammenfasst.
Deshalb kann und soll man einem Verfassungsschützer, der an der Tür klingelt, auch sagen, er solle sich zum Teufel scheren. Bei Polizisten hat man zwar ebenfalls gewisse Rechte, aber es ist nicht in jeder Situation klug, auf diesen zu bestehen. Das gilt im Zweifelsfalle als Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Die Rolle des Verfassungsschutzes liegt deshalb sehr stark im Medialen begründet. Seine wichtigste Funktion sind die Berichte und vor allem die durch keinen Absatz des Grundgesetzes gedeckten Folgen, die eine Erwähnung im Verfassungsschutzbericht für die Betroffenen hat.
Anders als in vergangenen Jahrzehnten sind heute gleich zwei Verfassungsschutzpräsidenten vielbeachtete Persönlichkeiten. Das zeigt die Aufwertung des Inlandsgeheimdienstes in der internen Hierarchie der bundesrepublikanischen Machtelite.
Der eine, Hans-Georg Maaßen, als Renegat, der sein Amt verlor, weil er sich weigerte, die inzwischen nachweislich falsche Behauptung mitzutragen, am Rande von Demonstrationen in Chemnitz sei es zu Hetzjagden auf Ausländer gekommen. Das muss man respektieren, unabhängig davon, was man von der Werteunion oder den Positionen hält, die Maaßen heute vertritt.
Der andere, Thomas Haldenwang, lässt nun ebenfalls sein Amt ruhen. Zurückgetreten ist er nicht; sollte es mit seiner Bundestagsbewerbung nichts werden, könnte er durchaus noch zurückkehren. Als 64-Jähriger steht er allerdings kurz vor Erreichen der Regelaltersgrenze, an der ein Bundesbeamter in den Ruhestand treten muss. Für Haldenwang ist der Gang in den Bundestag also vor allem ein Mittel, um der Pensionierung zu entgehen. Der Mann hat offenbar noch Ambitionen.
Das aber wäre belanglos, wenn Haldenwang nicht in der Lage wäre, sein auslaufendes Amt als Verfassungsschutzpräsident in ein Bundestagsmandat umzumünzen. Nun ist ein Bundestagsmandat kein Spitzenamt. Es gibt jede Legislaturperiode über sechshundert Stück davon, und die meisten Abgeordneten sind das Stimmvieh ihrer Fraktionsführer. J. Edgar Hoover hätte einen Sitz im US-Senat, geschweige denn im Repräsentantenhaus, zu Recht als Degradierung betrachtet.
Auf der anderen Seite ist die Listenaufstellung zum Bundestag nicht unbedingt etwas, was organisatorisch in unserem Staat nahe am Verfassungsschutz liegt. Und es wird ja auch andere Bewerber gegeben haben – gerade in der CDU, einer Partei mit immer noch über 360.000 Mitgliedern. Dass ein scheidender Verfassungsschutzpräsident genügend Macht hat, sich als Quereinsteiger auf die Liste schreiben zu lassen, würde selbst dann einen Machtzuwachs des Inlandsgeheimdienstes anzeigen, wenn das Ziel hier nur ein bequemer Altersjob für Haldenwang ist.
Interessant wird es nach den Wahlen im Februar. Die neue Regierung wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit von der CDU geleitet. Welche Rolle Haldenwang dann spielen wird, sollten wir genau beobachten. Es wird uns Aufschluss darüber geben, welche Macht der Verfassungsschutz in unserem Staat inzwischen hat. Sollte Haldenwang aus dem Amt des Verfassungsschutzpräsidenten gar in ein Ministeramt springen, dann sollte das alle Alarmglocken schrillen lassen.