Zurück in die 80er: Die Mittelstreckenrakete ist wieder da!

Über die neue russische Rakete „Oreschnik“ überschlagen sich die Behauptungen. Kann eine Waffe überhaupt ein „Game Changer“ sein? Vor allem birgt sie die Gefahr eines Atomkrieges aus Versehen. – Ein Kommentar von Johannes Konstantin Poensgen.

Nachdem die Vereinigten Staaten ihre ATACM-Raketen und die Briten ihre Storm-Shadow-Marschflugkörper für Ziele im russischen Inland freigegeben haben, reagierte die russische Seite mit dem Start einer Rakete vom neuen Typ „Oreschnik“ auf eine Waffenfabrik in der Ukraine. Seitdem behaupten die einen, dass es sich um die neue Superwaffe handelt, die anderen, dass es eine aufgemotzte Version einer alten sowjetischen Rakete ist. Doch jenseits der technischen Debatten ist vor allem die Frage entscheidend: Verändert diese Waffe überhaupt irgendetwas? Bisher haben in der Ukraine alle „Game Changer“ enttäuscht.

Um eines vorweg zu sagen: Ich glaube nicht, dass die mediale Verwirrung um diese Waffe das Ergebnis staatlicher Desinformation ist, weder von der russischen noch von der westlichen Seite. Sicher versuchen beide, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Nur hat sich inzwischen vor allem auf YouTube eine ganze Industrie von Kommentatoren des Krieges und der Geopolitik gebildet. Die allermeisten dieser Content Creators sind so auf ihre jeweilige Zielgruppe zugeschnitten, dass ihr Einkommen davon abhängt, diese Zielgruppe beständig in ihren eigenen Wunschvorstellungen zu bestätigen. In der traditionellen Presse sind die Abhängigkeiten noch andere, und hier spielt auch die staatliche Propaganda eine weit größere Rolle. Aber in den sozialen Medien ist die geschilderte Dynamik meiner Einschätzung nach um Größenordnungen wichtiger als jeder staatliche Beeinflussungsversuch.

Doch genug davon. Bevor wir die Oreschnik genauer betrachten, müssen wir einmal ein Wort klären, das seit Beginn dieses Krieges überall herumgeworfen wird: Hyperschall. Was ist eine Hyperschallwaffe? Nun, der Konvention nach eine Waffe, die sich mit Mach 5 oder schneller bewegt. Danach war die deutsche V2-Rakete die erste Hyperschallwaffe der Weltgeschichte. Auf dem Gipfelpunkt der Flugparabel erreichte sie etwa Mach 7. Ballistische Raketen waren immer schon Hyperschallwaffen. Schon die Interkontinentalraketen der 1960er- und 1970er-Jahre erreichten Geschwindigkeiten über Mach 20.

Trotzdem ist der Hyperschallhype nicht nur aus der Luft gegriffen, auch wenn viele Behauptungen der pro-russischen Seite hierzu übertrieben sind. Zum einen befinden sich inzwischen Staustrahltriebwerke in Entwicklung, die Geschwindigkeiten um Mach 5 erreichen. Damit wären nicht nur ballistische Raketen, sondern auch Marschflugkörper und im Prinzip zumindest auch Flugzeuge mit dieser Geschwindigkeit denkbar. Auch gibt es inzwischen Gleiter, die von einer ballistischen Rakete gestartet eine wesentlich niedrigere Flugbahn erlauben und so schwieriger abzufangen sind.

Doch das Wesentliche ist nicht die Geschwindigkeit, sondern die Steuerbarkeit und die Treffsicherheit bei solch hohen Geschwindigkeiten. Die Treffsicherheit einer Waffe misst man mit einem sogenannten Streukreisradius. Der Streukreisradius ist definiert als der Radius des Kreises, in den im statistischen Durchschnitt 50 % aller Treffer liegen, wenn auf die Mitte des Kreises gezielt wurde.

Bei der V2 betrug dieser Streukreisradius über 5 km. Deshalb war sie für ihre Zeit zwar eine technische Meisterleistung, militärisch aber vollkommen nutzlos. Auch die frühen Nuklearraketen zum Beginn des Kalten Krieges hatten noch Streukreisradien von oft über einem Kilometer. Später reduzierte er sich, betrug aber immer noch mehrere hundert Meter. Der Unterschied zur V2 war der nukleare Gefechtskopf. Für einen nuklearen oder gar thermonuklearen Gefechtskopf ist es mehr als ausreichend, einen Kilometer neben dem Ziel zu explodieren.

Als Trägersystem für konventionelle Sprengköpfe waren diese Raketen aber weiterhin genauso ungeeignet wie die V2. Das ist bei heutigen Systemen anders. Inzwischen wurden und werden ballistische Raketen entwickelt, die Geschwindigkeit und Präzision soweit in Einklang bringen, dass sie auch mit konventionellen Sprengköpfen bestückt werden können. Das ist ein Problem. Denn damit verschwimmt die Grenze zwischen konventionellen und nuklearen Waffen. Die große Gefahr des Atomkrieges stammt ja nicht daher, dass irgendjemand auf den roten Knopf drückt, weil er das für eine besonders kluge Idee hält.

Im Zweiten Weltkrieg hatten Briten wie Deutsche genug Giftgas und Anthrax, um Europa unbewohnbar zu machen. Trotzdem hat niemand diese Waffen eingesetzt. Die Gefahr bei Nuklearwaffen ist nicht allein die Zerstörungskraft, sondern dass diese Zerstörungskraft auf eine Rakete passt, die einen Feind selbst am anderen Ende der Welt in unter einer Stunde erreicht. Wenn eine Seite den Abschuss solcher Raketen registriert, dann muss sie schnell entscheiden, ob sie dies für einen Angriff hält und zurückschlägt. Wer hier zögert, riskiert, dass seine eigenen Nuklearwaffen den feindlichen zum Opfer fallen, bevor er zurückschießen kann. Dieses Dilemma ist es, das die nukleare Eskalation auch ohne einen Verrückten zu einer ernsten Gefahr macht.

Aus diesem Grund einigten sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion auch 1987 im sogenannten INF-Vertrag auf die Abschaffung aller Mittelstreckenraketen. Als Mittelstreckenrakete galt unter diesem Vertrag jede ballistische Rakete von über 500, aber unter 5500 Kilometern Reichweite. Die Gefahr dieser Mittelstreckenraketen wie der amerikanischen Pershing II oder der sowjetischen SS-20 bestand darin, dass sie näher am Feind stationiert waren. Die Reaktionszeit war damit noch viel geringer, oft unter 15 Minuten. Dementsprechend groß war das Risiko eines Atomkrieges aus Versehen. Die Abrüstung der Mittelstreckenraketen war das Ende eins der heftigsten politischen Kämpfe der 80er. Zahlreiche Menschen hatten gegen die Stationierung der Pershing II protestiert. In Deutschland war die Regierung Helmut Schmidt neben der Haushaltspolitik auch über den NATO Doppelbeschluss zerbrochen, der einmal die Stationierung dieser Raketen, andererseits die Aufnahme von Verhandlungen mit den Russen über die Begrenzung der Mittelstreckenarsenale festgelegt hatte.

Die Oreschnik ist nun eine solche Mittelstreckenrakete. Im Jahr 2019 traten die Vereinigten Staaten vom INF-Vertrag zurück, und die Russen folgten daraufhin. Der Grund für den amerikanischen Rücktritt vom INF-Vertrag war, dass die Chinesen ihn nie unterschrieben haben und zum gegenwärtigen Zeitpunkt über das mit weitem Abstand größte Arsenal an Mittelstreckenraketen verfügen.

Zugrunde liegt der Auflösung des INF aber die massive Verbesserung der Zieltechnik in unserer Zeit. Das chinesische Arsenal dient in erster Linie nicht als Träger von Nuklearwaffen, sondern dazu, im Kriegsfall mit den Vereinigten Staaten amerikanische Stützpunkte und selbst Schiffe, also bewegliche Ziele, im Westpazifik mit konventionellen Sprengköpfen anzugreifen. Das ist auch der Grund, weswegen es völlig illusorisch war, China zum Beitritt zum INF zu bewegen. Für den Fall eines Krieges mit den Vereinigten Staaten ist das Raketenarsenal Chinas wichtigste Waffengattung. Aber auch für die Vereinigten Staaten und Russland bedeutet die Verbesserung der Zieltechnik, dass sie mit dem Verzicht auf Mittelstreckenraketen eben nicht nur ein letztlich überflüssiges Trägersystem für Nuklearsprengköpfe, dessen Abschreckungsfunktion auch von Interkontinentalraketen erfüllt werden kann, sondern eine immer wichtiger werdende militärische Fähigkeit aus der Hand geben. Deshalb wäre der INF-Vertrag wohl so oder so nicht zu halten gewesen.

Die Möglichkeit, Mittelstreckenraketen als konventionelle Waffe effektiv zu nutzen, heißt aber noch nicht, dass dies notwendigerweise eine effiziente Art ist, feindliche Ziele zu bekämpfen. Einer der seriöseren Kommentatoren zur derzeitigen militärischen Luft- und Raumfahrttechnik hat vor einiger Zeit für den Fall eines chinesischen Angriffs auf einen der großen amerikanischen Stützpunkte im Westpazifik ausgerechnet, dass zwischen hundert und zweihundert Raketen benötigt würden, um sämtliche relevanten Ziele in einem solchen Stützpunkt zu zerstören. Das ist nicht außerhalb chinesischer Produktionskapazitäten, aber dennoch teuer.

Diese Rechnung steht mit den jüngeren Erfahrungen hierzu im Einklang. Am 7. April 2017 griffen die Vereinigten Staaten die syrische Luftwaffenbasis asch-Scha’irat mit etwa 60 Tomahawk-Marschflugkörpern an. Selbst nach amerikanischen Angaben beschränkte sich der Schaden auf 20 Prozent der einsatzbereiten Flugzeuge sowie Teile der Radaranlagen, Treibstoff- und Munitionsbestände. Die syrische Luftwaffe nahm die Operationen von asch-Scha’irat noch am selben Tag wieder auf.

Über die Oreschnik ist bekannt, dass sie sechs Wiedereintrittskörper mit sich führt, die selbst wiederum je sechs unabhängige Gefechtsköpfe zerfallen. Das macht insgesamt sechsunddreißig Gefechtsköpfe. Wenn die Rakete nicht vor der Trennung in einzelne Wiedereintrittskörper oder gar Gefechtsköpfe abgeschossen wird, reduziert sich die Zahl der notwendigen Raketen also von hundert bis zweihundert auf drei bis fünf. Das wäre tatsächlich ein Game Changer. Nicht nur für einen potenziellen NATO-Russland-Krieg, sondern auch für einen Krieg im Westpazifik, sollten die Chinesen diese, oder ein ähnliches System bekommen.

Voraussetzung dafür wäre allerdings zweierlei, das bisher unbekannt ist. Erstens, dass die Kosten für die Oreschnik in einem vertretbaren Rahmen sind. Zweitens aber, dass die einzelnen Sprengköpfe zielgenau genug sind, um etwa Flugzeugunterstände mit einiger Zuverlässigkeit zu treffen. Natürlich kann hier ein Faktor den anderen aufwiegen. Je billiger, desto mehr kann man verschießen, je präziser, desto weniger braucht man tatsächlich.

Politisch bedeutet dieses Waffensystem vor allem eine weitere Steigerung der nuklearen Eskalationsgefahr. Nicht ohne Grund haben die Russen die Amerikaner vor dem Start der Oreschnik vorgewarnt. Wenn Putin verkündet, er werde vor jedem Einsatz eine Warnung an die Zivilbevölkerung herausgeben, dann ist der Schutz von Zivilisten bestenfalls ein wünschenswerter Nebeneffekt. Die Russen sind sich vollkommen im Klaren darüber, dass der Einsatz dieser Waffen als nuklearer Angriff missverstanden werden kann. Trotzdem werden sie nicht verschwinden, dafür ist der Nutzen von Mittelstreckenraketen als Träger konventioneller Waffen beim heutigen Stand der Technik zu groß. Schon 2026 wollen die Amerikaner ihren eigenen Hyperschallgleiter LRHW Dark Eagle in Europa stationieren. Das System soll eine Reichweite von etwa 3000 Kilometern haben. Die Dark Eagle soll nicht nuklear bestückt werden. Kein ernstzunehmendes Militär wird in Zukunft auf konventionelle Mittelstreckenraketen verzichten können, dafür ist ihr militärischer Nutzen einfach zu groß. Ein neuer Vertrag zur gegenseitigen Abschaffung dieser Systeme ist deshalb sehr unwahrscheinlich. Es bedarf aber dringend eines unter der heutigen Technik zeitgemäßen Abkommens zur Entnuklearisierung dieser Systeme.

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