Zeitleiste einer Besatzung in Paris

In Paris hat das Theater „La Gaîté Lyrique“ Asylanten zu einer kostenlosen Veranstaltung eingeladen. 200 kamen und sie weigern sich zu gehen. Seit fünf Wochen. Eine Komödie in vier Kommuniqués.

Die Stellungnahmen des Theaters „Gaîté Lyrique“ lesen sich, als hätte ein Rechter eine besonders schlechte Satire geschrieben. Eigentlich beginnt die besonders schlechte Satire schon mit dem Namen des Theaters, auch wenn dieser historische Gründe hat und in eine Zeit zurückreicht, in der das englische Wort für Heiterkeit „gay“ von der Homosexuellenbewegung übernommen wurde.


Vorspiel: 10. Dezember 2024 – „Die Aufnahme von Flüchtlingen in Frankreich neu gestalten“

Tatsächlich reicht die Geschichte dieses Theaters bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Die aktuellen Betreiber hielten es allerdings für eine großartige Idee, am 10. Dezember Flüchtlinge zu einer kostenlosen Veranstaltung zum Thema „Die Aufnahme von Flüchtlingen in Frankreich neu gestalten“ einzuladen. Die Flüchtlinge gestalten ihre Aufnahme in Frankreich selbst neu – und zwar an Ort und Stelle. Sie weigern sich zu gehen. Am folgenden Drama lässt uns das Theater durch seine Kommuniqués teilhaben.


1. Kommuniqué: 11. Dezember 2024„Zeitweise Besetzung der Gaîté Lyrique & Aufrechterhaltung seiner Aktivitäten.“

Am 11. Dezember veröffentlichte das Theater sein erstes Kommuniqué zur Situation. Überschrift: „Zeitweise Besetzung der Gaîté Lyrique & Aufrechterhaltung seiner Aktivitäten.

Das Theater beklagt den „plötzlichen und erzwungenen Charakter dieser Besetzung“ durch die 200 Besetzer „aus allen Gesellschaftsschichten“, erklärt ihr Anliegen aber für berechtigt.

„La Gaîté Lyrique fordert den Staat auf, Kontakt mit der Pariser Präfektur aufzunehmen, um ein leerstehendes Gebäude zu beschlagnahmen, in dem diese 200 Menschen, die in den kommenden Tagen in Paris ‚auf der Straße‘ schlafen, unter guten Bedingungen untergebracht werden können, während die Temperaturen unter Null fallen.“

Der Betrieb werde aufrechterhalten, man arbeite aktiv daran, die Sicherheitsbedingungen der Situation anzupassen.


2. Kommuniqué: 14. Dezember 2024„Besetzung der Gaîté Lyrique: kein Lösungsvorschlag der zuständigen Behörden, mehrere Veranstaltungen abgesagt.“

Das mit der Beschlagnahmung von Immobilienbesitz zwecks Unterbringung von Asylanten klappte dann doch nicht so schnell. Am fünften Tag der Besetzung informiert uns das Theater, dass die Besetzer „aus allen Gesellschaftsschichten“ sich inzwischen zum „Kollektiv der Jugend aus dem Parc de Belleville“ zusammengeschlossen haben. Bei diesem Namen schwingt doch ein Hauch von Weltrevolution durch die Luft – oder zumindest ein Hauch von nie gewaschenen Che-Guevara-T-Shirts.

Doch leider ist die Revolution auch anstrengend: „Heute, am Samstag, dem 14. Dezember, häufen sich die Vorfälle, die Ermüdung und die Ungeeignetheit der Räumlichkeiten belasten jeden Tag mehr und erhöhen die Spannungen. Daher verurteilen wir aufs Schärfste die Untätigkeit und die Unfähigkeit zum Dialog zwischen den staatlichen Diensten und denen der Stadt Paris.“

Durch diese Untätigkeit bei der Vergemeinschaftung des Immobilienkapitals sieht sich die Gaîté Lyrique gehindert, die in ihr Quartierenden auf die Straße zu werfen. Da man inzwischen keinen reibungslosen Ablauf der Veranstaltungen mehr garantieren könne, habe man sich dazu entschlossen, das Marathon-Festival sowie das solidarische Weihnachtsfest abzusagen. Die Mitarbeiter bemühen sich allerdings, „den Ort offen und die anderen Aktivitäten aufrechtzuerhalten“.


3. Kommuniqué: 17. Dezember 2024 – „Besetzung der Gaîté Lyrique: Der Veranstaltungsort ist bis auf Weiteres für die Öffentlichkeit geschlossen.“

Dienstag, den 17. Dezember, wird die Gaîté Lyrique bis auf Weiteres für die Öffentlichkeit geschlossen. „Praktisch erlaubt die Situation nicht mehr, das Publikum unter optimalen Bedingungen zu empfangen.“

Anstelle von 200 besetzen mittlerweile 250 Menschen „aus allen Gesellschaftsschichten“ bedauerlicherweise plötzlich und erzwungen, aber mit berechtigten Forderungen, die Gaîté Lyrique. Die Mitarbeiter der Gaîté Lyrique „verurteilen aufs Schärfste die Untätigkeit und die Unfähigkeit, einen Dialog zwischen den Diensten der Stadt Paris und denen des Staates aufzunehmen. Diese Untätigkeit gefährdet eindeutig die untergebrachten Personen und die Teams, die mit der Situation allein konfrontiert sind, ohne dass ein Zeitplan für eine Lösung vorliegt, während die Gaîté Lyrique in keinem Fall zuständig ist und weder über die Räumlichkeiten noch über die sanitären Einrichtungen verfügt, um diesen Personen eine Lösung für die Unterbringung zu bieten – mit Respekt und Menschenwürde.“

Die Gaîté Lyrique fordert von der Stadt Paris eine unverzügliche Lösung. Das Programm ist derzeit und bis auf Weiteres ausgesetzt.


4. Kommuniqué: 10. Januar 2025 – „Nach einem Monat der Besetzung gibt es für die 300 jungen Menschen, die das Gaîté Lyrique bewohnen, keine Unterkunftslösung.“

Noch immer haben weder der französische Staat noch die Stadt Paris irgendetwas beschlagnahmt, um die inzwischen 300 Angehörigen des Kollektivs der Jugend aus dem Parc de Belleville unterzubringen.

„Während die Zahl der jungen Menschen, die im Gaîté Lyrique übernachten, weiter steigt, verschlechtern sich die sanitären Bedingungen von Tag zu Tag, und die Teams sind mit dieser Situation allein konfrontiert. Obwohl diese Besetzung ertragen wird, ist es für die Gaîté Lyrique undenkbar, diese Menschen mitten im Winter auf die Straße zu setzen.

Das Gebäude bleibt bis auf Weiteres geschlossen. Alle zwischen dem 10. und 24. Januar geplanten Veranstaltungen werden abgesagt oder an andere Partnerstandorte verschoben. Informationen werden täglich kommuniziert.“


Nachspiel: La Gaîté Lyrique ist pleite

Das Theater Gaîté Lyrique steht nun nach fünf Wochen Besetzung vor dem Bankrott. Ach ja, bevor der letzte Vorhang fällt. Eine Frage an die Zuschauer: Wie lautete der Name des Programms, das die Asylanten hereingebeten hatte? „Fabrique de l’époque“! Natürlich.

Applaus! Applaus!

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