Das gemeinsame Migrationsgesetz hat die Brandmauer beschädigt. Koalieren will noch keiner, doch könnten beide unter Zugzwang kommen. Die AfD wird einen Giftbecher leeren müssen: die Juniorpartnerschaft unter der CDU.– Ein Kommentar von Johannes Konstantin Poensgen
Die Brandmauer hatte für die linken Parteien die Funktion, die Dominanz ihrer eigenen politischen Richtung festzuschreiben, weil ohne sie keine Mehrheiten auf der Altparteienseite der Brandmauer möglich sind. Für die Union, der es immer schon in erster Linie um Posten und erst in zwanzigster Linie um Inhalte ging, hatte die Brandmauer eine andere Funktion: Sie sollte verhindern, dass sich überhaupt dauerhaft eine Partei rechts der Union etablieren kann.
Dies ist erkennbar gescheitert, und damit hat die Brandmauer aus parteistrategischer Sicht der Union längst ihre Daseinsberechtigung verloren. Notwendig setzt das das Altparteienkartell unter Druck. Es ist aber nicht bloße Trägheit oder die Hoffnung darauf, dass die AfD schon wieder verschwinden wird, die die Brandmauerschützen im Konrad-Adenauer-Haus auf Posten gehalten hat, damit ja kein ostdeutscher Lokalpolitiker „rübermacht“.
Denn ohne die Brandmauer steht tatsächlich der Grundkonsens der Bundesrepublik infrage. Dieser Grundkonsens ist nicht antifaschistisch, wie die Linken behaupten, oder antitotalitär, wie die Konservativen sagen, und er besteht auch nicht aus dummen Phrasen, die mit „Nie wieder“ beginnen. Der Grundkonsens der Bundesrepublik seit ihrem Bestehen lautet: Die Linken geben die Richtung vor, die Union bekommt den Löwenanteil der Posten und Pfründe.
Ein Grundkonsens dieser Art ist in jeder Demokratie notwendig. Zu den vielen Dingen, über die Kinder im Sozialkundeunterricht belogen werden, zählt die Vorstellung, dass in einer Demokratie verschiedene politische Richtungen miteinander diskutieren und dann eine Mehrheit eine Entscheidung trifft – bis in Zukunft, nach weiteren demokratischen Debatten, eine andere Mehrheit eine andere Entscheidung trifft.
Es ist ja eindeutig, dass bei einer ganzen Reihe von Grundsatzentscheidungen nicht heute „Hü“ und morgen „Hott“ gerufen werden kann. In jeder stabilen Demokratie gibt es deswegen nicht verschiedene Richtungen, sondern eine einzige Richtung in verschiedenen Geschwindigkeiten. Die politische Alltagssprache trägt dem übrigens Rechnung: Die politische Geographie der Bundesrepublik kennt nicht „Links“ und „Rechts“, sondern „Links“ und „Konservativ“ – also diejenigen, die nach links wollen, und diejenigen, die es möglichst lange so lassen wollen, wie es ist, die aber am Schluss mitgehen werden.
Übrigens gibt es genau aus diesem Grund in allen westlichen Demokratien seit dem Zweiten Weltkrieg nicht bloß eine, sondern gleich drei Brandmauern: eine gegen Rechts, eine gegen Antitransatlantiker und eine, die heute kaum noch wichtig ist, früher aber sehr bedeutend war – nicht gegen Links, aber gegen Sozialisten, gegen diejenigen, die jenseits von Sozialleistungen die marktwirtschaftliche Ordnung und das Privateigentum an Produktionsmitteln abschaffen wollen.
Wenn Angela Merkel jetzt gegen Friedrich Merz interveniert, dann geht es nicht um irgendeinen politischen Inhalt. Merkel hat in dieser Hinsicht erwiesenermaßen keinerlei Überzeugungen. Es geht ihr darum, diesen Verteilungskonsens der Bundesrepublik – den Linken das Programm, der Union die Posten – zu retten. Das ist es, was sie „staatspolitische Verantwortung“ nennt.
Damit steht zum einen nicht eine Spaltung, aber eine Selbstzerfleischung der Union im Raum. Wenn dies geschieht, dann droht Deutschland die Unregierbarkeit, denn eine Mehrheit links der Mitte wird es nach der nächsten Wahl nicht geben. Derzeit stehen Grüne und SPD zusammen bei etwa 30 Prozent. Linkspartei wie BSW werden Probleme mit der Fünf-Prozent-Hürde haben, dasselbe gilt für die FDP.
Aus diesem Grund ist eine bloße Zusammenarbeit bei einzelnen Gesetzen zwischen AfD und CDU keine auch nur kurzfristig stabile Lösung. Dazu gab es heute eine kurze Auseinandersetzung zwischen Maximilian Krah und dem Politologen Oliver Weber. Auf Webers Hinweis, dass, wer gemeinsam Gesetze verabschieden könne, im Normalfall des parlamentarischen Regierungssystems auch eine gemeinsame Regierung stellen müsse, antwortete Krah juristisch: Das sei zwar „normal“ in dem Sinne, dass es meistens so sei, aber eben nicht normativ so. Es sei ja nirgendwo vorgeschrieben, dass zwei Parteien, die zusammen einen Gesetzesentwurf durchgebracht haben, auch gemeinsam eine Regierung stellen müssen.
Damit hat Krah natürlich recht, nur geht es an der Sache vorbei. Weber hat das daraufhin ausgeführt – und das ist bisher die prägnanteste Zusammenfassung der jetzigen Lage, die ich gefunden habe:
„So sieht im parlamentarischen System übrigens eine perfekte politische Aporie aus: eine linke Minorität, die sich nicht erpressen lassen will, eine rechte Majorität, die bestimmtes Regierungshandeln für eine Gewissenspflicht hält, aber gemeinsam keine Regierung stellen will.“
Jetzt lassen wir einmal beiseite, dass die Union nicht als rechts gelten will und diejenigen, die sich selbst rechts nennen, mit der Union nichts zu tun haben wollen. Oder eigentlich lassen wir das nicht beiseite, denn das ist ja genau der Kern des Problems. Ebenfalls soll uns jetzt nicht die Frage kümmern, inwieweit die Union aus Gewissenspflicht handelte und inwieweit aus Angst.
Das Entscheidende ist, dass das parlamentarische System darauf ausgelegt ist, dass diejenigen, die gemeinsam Gesetze verabschieden, auch eine Regierung bilden. Wenn diese sich weigern, dann kann gar nicht regiert werden. Wenn die Union in der Migrationsfrage gegen die linken Parteien stimmt, sich aber einer Koalition mit der AfD versperrt, dann kommt überhaupt keine Regierung zustande.
Das wird jedoch erheblichen Druck auf Union und AfD ausüben, doch zu einer Koalition zu kommen. Zurzeit steht vieles noch dagegen. Friedrich Merz hat dies für sich persönlich ausgeschlossen, aber aller Voraussicht nach wird Merz am Abend des 23. Februar vor der Wahl stehen, entweder mit einer Partei zu regieren, die ihn zu einer weiteren 180-Grad-Wende in der Migrationspolitik zwänge, oder aber mit der AfD. Wenn er richtig Pech hat, dann wäre jede Koalition außer mit der AfD eine mit mindestens zwei linken Parteien.
Noch eine Migrationswende würde ihn nicht nur jede Glaubwürdigkeit kosten – damit könnte er leben. Aber die Union würde dann weitere Wähler an die AfD verlieren, und das derzeitige österreichische Szenario wäre nur noch eine Frage der Zeit.
Aus Merzens Sicht ist eine Koalition mit ihm als Kanzler und der AfD als Juniorpartner immer noch die beste Option. Und soweit lehne ich mich aus dem Fenster: Ich behaupte, dass das nach einigem Hin und Her im März dann auch passieren wird.
Aber wie sieht das für die AfD aus? Ein Grundsatz, den viele oft wiederholt haben und den man nicht zuletzt aus den katastrophalen Erfahrungen der FPÖ mit der ÖVP gelernt hat, lautet: Niemals als Juniorpartner in eine Koalition. Erst recht nicht mit der Union.
Nur, was ich oben für die Union gesagt habe, wird auch für die AfD gelten. Die Partei wird unter immensem Druck stehen, mit der Union zusammenzugehen – einfach weil keine andere Koalition praktikabel sein wird. Und an dieser Stelle muss ich einmal prophylaktisch die Liberalkonservativen der AfD in Schutz nehmen:
Wenn die Koalition steht, werden viele ihnen vorwerfen, die Partei ausverkauft zu haben. Sie werden den Liberalkonservativen Postengeilheit unterstellen und prophezeien, dass diese Koalition kein gutes Ende nehmen und die AfD dabei massiven Schaden erleiden wird. Mit Letzterem werden sie wahrscheinlich sogar recht behalten.
Nur: Wenn Schwarz-Blau die einzige Regierungsoption ist, dann wird sich die AfD nicht drücken können. Die Stimmen dann nicht in Regierungspolitik umzusetzen, wird niemandem vermittelbar sein – nicht den Wählern, nicht der Parteibasis und auch nicht der breiten Mehrheit der Politiker und Mitarbeiter.
Diese Koalition wird ein Giftkelch sein – und die AfD wird diesen Giftkelch schlucken müssen.