Heute vor 77 Jahren kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos – auch wenn Teile der Truppen noch wochenlang weiterkämpften und die Regierung des Deutschen Reichs erst am 23. Mai in Gefangenschaft geriet, wird der 8. Mai als De-facto-Ende des Weltkriegs in Europa gesehen. Dieses Datum wird heute in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich öffentlich als „Tag der Befreiung“ begangen. Doch mit dem 8. Mai war für unser Volk mehr verloren als der Zweite Weltkrieg.
Ein Kommentar
Diese Interpretation speist sich aus einem Bruch in der Identitätslinie unseres Volkes, in der die Rollen vertauscht wurden: Die Generation der Väter, Groß- und Urgroßväter wird als „Die Fremden“ verstanden. Eine Identifikation findet stattdessen mit der Siegerseite statt – „Wir haben den Krieg gewonnen“ bzw. wurde er für uns gewonnen. Der Wunsch, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, ist groß.
So veranstaltet beispielsweise die österreichische Bundesregierung seit 2013 in der Hauptstadt am 8. Mai das „Fest der Freude“ am Wiener Heldenplatz zum „Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft“.
Dass bei all dem Siegestaumel und der Berauschung am Triumph der Alliierten eine klare, geschichtlich ausgewogene und vor allem der Zeit gerecht werdende Sicht auf die Ereignisse der Kriegsjahre, der Kapitulation und der Zeit danach kaum möglich ist, ist selbstverständlich.
Vergessen werden in der medialen, politischen und gesellschaftlichen Betrachtung oft Bombenterror, Obdachlosigkeit, Trümmer, Vertreibung, Erschöpfung, Hunger, Tod, Verstümmelung, Schändung und Vergewaltigung, denen die „Befreiten“ ausgesetzt waren.
„Befreiung“ ursprünglich Sowjetsprech
Geschichte ist keine klare, objektive Wissenschaft, sondern immer Deutung und Interpretation unterworfen. Worauf der Fokus gelegt wird und was ausgespart wird, was man feiert und was man vergisst, prägen das Gefühl und die Position in Bezug auf Geschehenes.
Das Narrativ, die feindlichen Truppen kämen als Befreier, geht ursprünglich auf die Sowjetunion zurück. Diese propagandierte dies in Bezug auf den Einmarsch nach Österreich. Im Allgemeinen sprach man 45 von der „Katastrophe“ oder dem „Zusammenbruch“ – es war schwierig, passende Worte für das zu finden, was geschah. Selbst für Gegner der Hitler-Regierung. In der Nachkriegszeit breitete sich die Interpretation als „Befreiung“ langsam im ganzen deutschen Sprachraum aus, blieb aber stets Minderheitenmeinung. Erst in den letzten Jahrzehnten schaffte sie sich Raum, bis sie zur offiziellen Staatsdoktrin wurde.
„Wir rücken als Sieger ein!“
Doch was ist der 8. Mai nun? Niederlage? Sieg? Katastrophe? Befreiung? Alles und nichts davon?
Dass das, was damals geschah, eine Befreiung sein solle, war für die meisten Zeitgenossen höchstens ein zynischer Euphemismus. Schon allein deshalb, weil die Alliierten anfänglich eindeutig klarstellten, dass sie nicht als Befreier, sondern als Besatzer in die Reichsgrenzen einmarschieren.
So lautete beispielsweise der Beginn der ersten Proklamation der Westalliierten an das österreichische Volk: „Die alliierten Streitkräfte rücken in Österreich als Sieger ein; denn Österreich hat als wesentlicher Bestandteil des Deutschen Reiches gegen die Vereinten Nationen Krieg geführt.“
Auch für heute lebende Familien, in denen die Geschichten über das Leid und das Elend ihrer Angehörigen noch präsent sind, muss der offizielle Freudentaumel hämisch wirken. Für sie ist der 8. Mai auch ein Tag der Trauer.
Erst kamen die Bomben …
Schon vor Kriegsende hatte die deutsche Zivilbevölkerung unter unzähligen traumatischen Erlebnissen zu leiden. Hervorzuheben ist hier der Bombenkrieg, der nicht nur militärische Ziele, sondern oftmals Wohngebiet traf. Besonders die Angriffe auf Dresden haben traurige Berühmtheit erlangt, sind aber leider beispielhaft für die gesamte Endphase des Krieges. Schätzungen gehen davon aus, dass 1945 die Hälfte der Stadtfläche Deutschlands in Trümmern lag. Von kriegsnotwendigem Vorgehen kann hier kaum noch gesprochen werden, denn je näher die Kapitulation rückte, desto härter wurden die Luftangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung. Bereits 1940 hatte Churchill „absolut verwüstende, vernichtende Angriffe“ auf Deutschland als Ziel ausgegeben. Dass verschiedene Gruppen seit Jahren daran arbeiten, die Opferzahlen alliierter Zivilbombardements herunterzusetzen, oder selbsthasszerfressene Linke diese humanitäre Katastrophe gar mit Sätzen wie „Bomber Harris, do it again!“ glorifizieren, ist eine Verhöhnung der damaligen Opfer.
… dann die Infanterie
Mit der Einnahme der deutschen Gebiete wurde das Leid der Zivilbevölkerung, insbesondere der Frauen, zur Dauerkatastrophe. Mit dem Vorrücken der russischen Infanteristen kamen Raubzüge, Mord und Vergewaltigung. Diese Schrecklichkeiten kommen zwar in jedem Kriegsszenario vor, erreichten 45 jedoch ein nie dagewesenes Maß. Die Wirklichkeit war teils schlimmer als die Schreckensbilder, die die NS-Propaganda im Vorfeld gezeichnet hatte.
Die Rotarmisten wurden direkt dazu aufgefordert, sich an der Bevölkerung zu vergehen.
So schrieb eine russische Fortzeitung: „Wer noch Jungfrau ist, wird zum Weibe, und die Weiber Leichen bald. […] Tötet! Tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht!“
Die genauen Zahlen sexueller Übergriffe werden immer unbekannt bleiben. Oftmals wurde aus Scham weder Anzeige erstattet noch eine ärztliche Untersuchung in Anspruch genommen und Vergewaltigungen in Verbindung mit Mord wurden oft schlichtweg übersehen. Schätzungsweise wurden 1,9 Millionen deutsche Frauen und Mädchen während des Vormarsches der Roten Armee bis Berlin an Körper und Seele geschändet. Heute werden diese Taten mit einer angeblichen „Kollektivschuld“ der Deutschen relativiert, doch selbst der Missbrauch jüdischer Frauen oder deutscher Kommunistinnen und Widerständlerinnen gegen die NS-Herrschaft ist bestätigt.
Die wenigen Männer, die noch in der Heimat waren – oft Alte und Kranke – und sich schützend vor die Mädchen stellten, um deren Ehre und Leben zu verteidigen, wurden oft einfach an Ort und Stelle erschlagen oder erschossen.
Wichtig zu verstehen ist, dass Kriegs- und Besatzungsvergewaltigung nicht nur im sexuellen Trieb der Soldaten ihre Ursache haben. Die Frauen sollen körperlich und psychisch gebrochen werden. Die Männer, die ihre Mütter, Ehefrauen und Töchter nicht mehr schützen können, gedemütigt. Der Körper der geschändeten Frauen wurde symbolisch zum Platz für die Siegesparaden der Kriegsgewinner.
„Lebst eh noch?“
Stellvertretend hier zwei Berichte aus dem Jahr 45, beispielhaft für das Leid unzähliger namenloser, vergessener Opfer:
„Vor zirka 14 Tagen ist eine gewisse N. aus Wilfleinsdorf bei Bruck an der Leitha, als sie am Feld arbeitete, von mehreren russischen Soldaten mit vorgehaltenen Waffen gezwungen worden, mit ihnen in den Wald zu gehen. Dort wurde sie von 16 russischen Soldaten vergewaltigt und dann liegengelassen. Mit Aufwendung letzter Kraft konnte sich das Mädchen in den Ort schleppen. […] Vor vier Tagen ist dieses unglückliche Mädchen an den Folgen der Vergewaltigung in Wien im Spital gestorben.“
Eine 14-Jährige aus Klostermarienburg:
„Das Martyrium dauerte von 10 abends, bis 4 Uhr in der Früh. Wie viele es waren, weiß ich nicht. […] Um 5 Uhr in der Früh ist meine Mutter gekommen und hat gefragt: „Lebst eh noch?“ “
Teils wurden junge Mädchen erst über die Warnung vor Vergewaltigung sexuell aufgeklärt.
Wen kann es da verwundern, dass viele sich lieber im Vorfeld umbrachten als „befreit“ zu werden. Als der erste Artilleriedonner den Wienern ankündigte, dass auch ihre Stadt bald in Russenhand fallen würde, trafen sich manche Stadtbewohnerinnen, um gemeinsam in den Suizid zu gehen, aus Angst vor dem was im Leben auf sie wartete. In der Steiermark wurden allein im ersten Monat fast 10.000 Vergewaltigungen offiziell bestätigt. Zeitgenössische Quellen melden 100.000 Vergewaltigungen in Wien. 140.000 für Niederösterreich. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Manche Schätzungen gehen von 50% der weiblichen Bevölkerung in den Städten des Reichs aus. Die Ältesten über 80, die jüngsten kaum drei Jahre alt. Viele überlebten ihr Martyrium nicht oder waren für ihr ganzes Leben traumatisiert.
»Genießt den Krieg, der Frieden wird schrecklich« wurde zum zynisch-tragischen Witz in den Endtagen des großen Weltenbrands.
Kinder, die aus diesem Verbrechen entstanden, waren zusätzliche Belastung für die Opfer. Mit primitiven und gefährlichen Mitteln, wie dem Trinken von Seifenlauge oder dem Einführen von Draht, versuchten die Betroffenen Schwangerschaften zu beenden.
Wie damit umgehen?
Mit dem 8. Mai war für unser Volk mehr verloren als der Zweite Weltkrieg. Es brach mehr zusammen als die Armee oder das Deutsche Reich. Bedingungslose Kapitulation bedeutet, dass der Sieger nach Belieben über alle Belange im Hoheitsgebiet des Besiegten frei verfügen kann. Besitz, Freiheit und Leben der Bevölkerung lagen in den Händen der Staaten, mit denen wir zuvor sechs Jahre in Krieg gestanden hatten. Was während des Kriegs im sicheren Hinterland verschont geblieben war, wurde jetzt umso härter getroffen – und wir feiern ungetrübte Jubelfeste?
Haben wir das alles vergessen? Sollten wir es? Ändern kann man das Geschehene nicht. Alle Kriegsparteien haben im letzten Jahrhundert schwere Schuld auf sich geladen und keinesfalls sollte das heute das Verhältnis zwischen den Völkern Europas nachhaltig trüben. Doch eine würdige Gedenkkultur muss trotzdem das Ziel in Deutschland und Österreich sein.
Den 8. Mai einfach nur zum Tag der „Befreiung“ zu erklären und „Feste der Freude“ abzuhalten, ist unseren Vorfahren, ihren Entbehrungen, ihren Opfern und ihrem Leiden unwürdig – es schändet jeden Ermordeten, jede Vergewaltigte ein zweites Mal.
Auch den eigenen Opfern gedenken – Siegermythen hinterfragen
Ein erster Schritt, der einem freien Volk würdig gerecht werden würde, wäre es im Rahmen der öffentlichen Veranstaltung dieses Tages ebenfalls unseren Opfern zu gedenken. Mit dem Tod der letzten Zeitzeugen, verschwinden auch deren Erinnerungen, Geschichten und Erlebnisse zusehends aus dem kollektiven Gedächtnis. Im Schulunterricht wird es daher umso Notwendiger, nicht nur Kriegsursachen, Verlauf und Ende, sondern auch die Zeit danach kritisch aus der Perspektive unserer Vorfahren zu betrachten.
Und nicht zuletzt ist eines längst überfällig: Die Rote Armee stellte sich in vielen Großstädten nach der Besatzung selbstgerechte Siegesmäler auf, die bis heute zu ihrer Glorifizierung dienen. Besonders sind hier jene in Wien und Berlin zu nennen. Während alle möglichen alten Weihestätten und Denkmäler unserer eigenen Geschichte kritisch hinterfragt werden, während man Straßen umbenennt und alte Statuen um „Zusatztafeln“ ergänzt, auf denen Patriotismus, Heimatliebe und Machtpolitik zeitgeistig hinterfragt werden, stehen diese Bauten seit fast 80 Jahren unverändert.
Die Forderung, auch diese Sowjet-Denkmäler kritisch zu kommentieren, indem man dort durch Zusatzbauten an ihre Verbrechen erinnert, ist nicht nur gerecht, sondern längst überfällig.
Die Errichtung eines eigenen Mahnmals in Erinnerung an die Grausamkeiten, die sich nach dem 8. Mai ereignet haben, könnte dann ein nächster wichtiger Schritt zu einer ehrlichen Gedenkkultur sein.