Die Europäische Union will jetzt ein eigenes Spionagenetz haben. Was manche als den Griff nach der totalen Überwachung sehen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als die übliche Brüsseler Großmannssucht. Was wird das am Ende bedeuten? – ein Kommentar von Johannes Konstantin Poensgen
Ursula von der Leyen will einen eigenen Geheimdienst, heißt es gerade. Das stimmt nicht ganz. Die Berichte, die sich auf einen gestrigen Artikel von Politico stützen, schreiben teilweise von der Forderung nach einem „zentralen Geheimdienst“. Bei Politico steht aber nur, „fully fledged intelligence cooperation [!] service at the EU level“, also ein vollständig ausgebildeter Kooperationsdienst der Geheimdienste auf der Ebene der Europäischen Union. Über das von Politico erwähnte Five-Eyes-Netzwerk steht in dem nun vorliegenden Originaldokument nichts.
Auch die reißerische Schlagzeile „CIA-artiger Europäischer Geheimdienst“ wird von diesem Dokument nicht ansatzweise gestützt. Um einmal die Perspektive geradezurücken: Das Budget der CIA ist geheim, aber 2013 wurde durch Edward Snowden aufgedeckt, dass die CIA damals 14,7 Milliarden Dollar im Jahr zur Verfügung hatte. Das waren zur damaligen Zeit etwa ein Zehntel des gesamten Haushaltes der Europäischen Union (144 Milliarden Dollar im Jahr 2016). Der Jahreshaushalt für 2024 beträgt 188 Milliarden Euro, das sind 205 Milliarden Dollar. Das gesamte schwarze Budget für alle US-Dienste betrug laut Snowden 2013 über 52 Milliarden US-Dollar.
Der Vergleich zwischen den Five Eyes und dem, was man nun auf Ebene der Europäischen Union andenkt, ist aber tatsächlich aufschlussreich. Five Eyes ist kein eigenständiger Geheimdienst, sondern im Grunde eine Reihe von Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Neuseeland und Australien, zum gegenseitigen Informationstausch zwischen den nationalen Geheimdiensten.
An diesem Punkt sieht man auch schon, worin das Problem besteht, wenn man das auf die EU übertragen will. Zum Allerersten: Das Vorbild heißt Five Eyes. Nicht Twenty-Seven Eyes. Die Five Eyes bilden einen Kooperationsrahmen für 21 Dienste aus fünf verschiedenen Ländern. Man stelle sich das einmal auf 27 Länder übertragen vor!
Zweitens, und viel wichtiger: Es gibt in der EU keinen eindeutigen Hegemon. Die Bundesrepublik Deutschland hat nicht ansatzweise die Dominanz gegenüber Staaten wie Frankreich oder Italien, oder auch nur Polen, wie sie die Vereinigten Staaten gegenüber Großbritannien, Kanada oder Australien haben. Innerhalb der Five Eyes können die Amerikaner, wenn es sein muss, ein Machtwort sprechen. In der Europäischen Union gibt es niemanden, der das kann, auch wenn mancher Grieche oder Spanier gerne glaubt, dass die Deutschen seinem Land die Politik diktieren. Die EU ist am Ende des Tages eine Wirtschaftszone mit gemeinsamen Regulierungsbehörden innerhalb der NATO und unter der amerikanischen Hegemonie. Das kann einem missfallen, aber das ist der gegenwärtige Stand der Tatsachen. Gerade in Brüssel vergisst man das aber sehr gerne.
Und das ist wirklich gefährlich, nicht weil die Brüsseler Blase zu viel Macht bei sich ansammeln könnte, sondern weil bei ihrem clownesken Versuch, sich zu den, nicht Herren, sondern eher den Managern der Vereinigten Staaten von Europa zu machen, allerlei schiefgehen kann. Der Ukrainekrieg hat zu einer sehr merkwürdigen Großmannssucht gerade in Brüssel geführt. Sehr merkwürdig deshalb, weil dieser Krieg ja eindeutig die Ohnmacht der Europäer und ihre Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten herausgestellt hat. Die Europäer wollten den Konflikt mit Russland nicht. Oder sagen wir besser: Die Westeuropäer, einschließlich der Deutschen, wollten ihn nicht. In Polen und den baltischen Staaten sah es anders aus. Da hörte die europäische Einigkeit ja schon auf.
Als die Amerikaner den Krieg dann erzwangen, da schoss man auf einmal, zumindest verbal, schärfer auf Putin als die Amerikaner selbst. Zurzeit diskutiert man in Brüssel ernsthaft darüber, wie man denn die Russland-Sanktionen aufrechterhalten könne, sollten die Vereinigten Staaten diese nach einem Sieg Donald Trumps bei den Wahlen nächste Woche fallen lassen. Das ist nur noch grotesk. Europa hat diesen Krieg für amerikanische Geointeressen mitgetragen, weil man vor die Wahl „Washington oder Moskau“ gestellt nur für Washington optieren konnte. In der Folge wandern europäische Unternehmen inzwischen in die Vereinigten Staaten ab, weil dort die Energiepreise noch erträglich sind. Jetzt redet die Brüsseler Blase ernsthaft darüber, wie man die Sanktionen weiter aufrechterhalten könnte, wenn die Amerikaner das nicht mehr verlangen.
Das sagt viel über die Motivationstreiber der Eurokraten aus. Es geht vor allem darum, innerhalb der eigenen Kaste besonders gut dazustehen. Das erreicht man, indem man noch lauter blökt als alle anderen, was innerhalb der eigenen Blase sowieso Konsens ist. Und dieser Konsens ist im dritten Kriegsjahr, dass der Krieg bis zum Sieg der Ukraine weitergeführt wird. Es ist eine Art, zu Entscheidungen zu kommen, die mit der Umwelt nur noch begrenzt etwas zu tun hat, jedenfalls nicht bis man auf die harte Tour von der Wirklichkeit eingeholt wird.
Genauso muss man sich die Gründung eines europäischen Koordinationsdienstes für die nationalen Geheimdienste vorstellen. Vor jedem praktischen Zweck haben solche Vorschläge den Sinn, dass man sich in Brüssel gut fühlt. In Brüssel lautet die Standardlösung für jedes beliebige Problem der Welt sowieso stets „mehr Europa“. Wenn man einem Brüsseler Eurokraten sagt, dass im Amazonas eine Mückenart am Aussterben ist, so wird er zunächst darüber nachdenken, wie man hierfür eine gemeinsame europäische Lösung finden könnte. Dass dabei jedes Mal Posten und Pfründe geschaffen werden, macht einen Gutteil der Überzeugungskraft dieser Patentlösung aus.
Was wird also passieren, wenn man den nationalen Geheimdiensten noch eine europäische Koordinationsstelle überstülpt? Wahrscheinlich herzlich wenig. Denn aller Erfahrung nach sind große Bürokratien erstaunlich ineffizient in geheimdienstlicher Arbeit. Die Geschichte solcher Geheimdienste zeigt immer dasselbe Muster: Es gibt fähige Analysten, aber sobald ein Thema politisch relevant wird, muss die Einschätzung geliefert werden, auf die sich die oberen Etagen schon im Voraus geeinigt haben. In dieser einen Hinsicht wäre dieser europäische Geheimdienst-Koordinationsdienst wohl tatsächlich wie die CIA.